Kapitel 3: Damson

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Als die Schulglocke klingelt, befinde ich mich immer noch auf der Schultoilette. Einerseits hatte ich nicht mehr den Mut gefunden, zu einer weiteren Unterrichtsstunde zu erscheinen, andererseits kann ich auch nicht nach Hause. Was dort auf mich wartet, weiß ich ja bereits. Ich verlasse also nun meinen Zufluchtsort und gehe zu meinem Spind. Auf dem Weg ziehe ich den Reißverschluss meiner Jacke zu und setze die Kapuze auf. Jetzt, wo der Unterricht vorbei ist, kann mich keiner mehr dafür kritisieren. Ich stecke die Kopfhörer in meine Ohren und schalte entspannende Musik ein. Am Spind angekommen, packe ich alle meine Bücher so schnell wie möglich in die Tasche und mach mich dann auf den Heimweg, wobei ich weitestgehend versuche, jeglichen Blickkontakt zu meiden.

Ich weiß einfach jetzt schon, dass diese Woche scheiße wird. Außerhalb des Schulgeländes lasse ich mich auf eine der Bänke nieder. Ich will eigentlich immer noch nicht so wirklich nach Hause. So geht es mir meistens nach der Schule und deshalb ist das hier inzwischen sowas wie mein Stammplatz. Circa 20 Minuten später ist die Schule wie leergefegt. Ich war derweil in meinem Handy versunken, beschäftigt mit dem nie enden wollenden Fluss an Memes, den mir Instagram jeden Tag aufs Neue beschwerte, weil ... Was sollte ich auch sonst machen?

"Hey...", unterbricht mich da eine Stimme. Als ich aufblicke, erkenne ich den Jungen aus Mathe wieder. "Hi", murmle ich knapp und will meinen Blick bereits wieder abwenden, doch er redet einfach weiter. "Ich hab das in der Cafeteria mitgekriegt... Beziehungsweise, eigentlich hab ich dich danach durch die Gänge rennen gesehen..." Dabei setzt er sich einfach neben mich. Was zur Hölle? Warum? "Sieh mal, ehm.. eh.." erst jetzt fällt mir wieder auf, dass ich seinen Namen immer noch nicht kenne. "Noah," beantwortet er da auch schon meine unausgesprochene Frage. "Ich heiße Noah."

"Oh, eh ja, also Noah.. Lass das doch einfach." fahre ich nach kurzem Zögern fort. "Was? Was soll ich denn lassen? Wovon redest du?" fragt der Junge sichtlich verwirrt. "Ach, tu doch nicht so. Ich weiß, was du versuchst und es zieht nicht. Also kannst du es auch gleich lassen..." erkläre ich. "Was?", fragt er erneut. "Lass den Scheiß!" rufe ich genervt. "Was soll ich denn lassen?! Ich habe keine Ahnung, wovon du redest." kommt mindestens genauso genervt zurück. "Na, von dir! Ich weiß, dass du das wegen Tiffany machst, aber es funktioniert nicht, also lass es. Tschüss, Noah!" sage ich und, bevor er überhaupt reagieren kann, greife ich meine Tasche und renne nach Hause. Denkt er wirklich, ich lasse mich so leicht verarschen? Na, viel Glück damit! Ich lasse mich nicht verletzen, schon gar nicht von so einem blöden Jungen.

Zu Hause angekommen sehe ich mich um und entdecke zu meiner Enttäuschung, dass das Auto meiner Mutter bereits in der Einfahrt steht. Langsam öffne ich die Haustür und schleiche hinein. Oh Gott, das gibt Ärger! Ich soll immer schon vor ihr zu Hause sein und das Essen zubereitet haben. Im Wohnzimmer entdecke ich meine Mutter, die ohnmächtig auf dem Sofa liegt, die Whiskeyflasche noch in der Hand. Ich nehme sie ihr ab, stelle sie auf den Couchtisch und gehe seufzend zurück in die Küche. Was könnte ich kochen? Ich entscheide mich für Hamburger, und stelle die Reste in die Mikrowelle, damit sie warm bleiben. Dann gehe ich so leise wie möglich die Treppe hoch und in mein Zimmer, bemüht, meine Mutter nicht aufzuwecken.

Meine Familie war nicht immer so. Wir waren nicht immer so kalt. Genau genommen, waren wir früher ziemlich glücklich miteinander. Das heißt, bis mein Bruder starb. Ich habe zwei ältere Brüder, von denen nur noch einer lebt. Der ist aber nie zu Hause. Als Jeromy starb, hat das bei uns allen Narben hinterlassen. Er war ein sehr lebensfroher Junge, der jeden mit seiner guten Laune ansteckte. Er hielt uns damit irgendwie zusammen. Er und Damson waren Zwillinge. Damals waren sie ein Herz und eine Seele. Kein Wunder, dass es Damson so sehr verändert hat.

Naja... Genau genommen haben wir alle uns verändert. Wir alle haben eine tiefe Trauer in uns, mit der wir ganz unterschiedlich umgehen. Mein Vater fing an ständig fremdzugehen und mich zu misshandeln. Meine Mutter fing an zu trinken und tat dasselbe. Damson fing an, sich ständig mit jedem anzulegen und ich? Ich hörte auf zu reden. Ich habe Damson so lange nicht mehr gesehen, man könnte meinen, ich hätte gleich beide Brüder auf einen Schlag verloren. Oder eigentlich meine ganze Familie.

Inzwischen sitze ich auf meinem Bett und starre Löcher in die Decke. Ich wünsche mir manchmal so sehr, dass das alles nicht real ist. Dass ich eines Tages meine Augen aufschlage, und realisiere, dass alles nur ein böser Traum war. Ich setze meine Brille ab und platziere sie auf dem Nachttisch. Seufzend stelle ich mir vor, wie es wohl wäre, wenn mein Wunsch in Erfüllung ginge. Wir wären wieder glücklich. Ich wäre glücklich. Nichts wünsche ich mir mehr, als endlich wieder glücklich zu sein.

The Gangleader's Girl [German Translation]Where stories live. Discover now