- Teil 1 -

84 16 12
                                    

Seine grauen Augen überfliegen flüchtig das Blatt Papier, bevor er seine Brille zurechtrückt und die Hände vor sich auf dem Schreibtisch zusammenfaltet. Unsicher räuspert er sich, fast schon zu nervös, um mich direkt anzusehen.

So geht es den meisten Leuten, wenn sie mit mir sprechen. Bloss nicht zu lange Blickkontakt halten. Freundlich, aber nicht zu überschwänglich lächeln.
Ganz gleich, wie viel man schon über mich zu wissen scheint, immer den Ahnungslosen spielen.
Es ist, als würde jeder eine Liste im Kopf führen und Punkt für Punkt abhaken. So verhalten sich jedenfalls die angenehmen Leute, mit denen ich mich tagtäglich auseinandersetzen muss.

Der Mann streicht unsichtbare Falten seines hellgelben Hemdes glatt. Es passt so gar nicht in den sonst so sterilen Raum mit den weiss gestrichenen Wänden. Man könnte fast meinen, der Mensch, der hier arbeitet, würde sich jede freie Minute damit beschäftigen, den Raum so ordentlich und unpersönlich wie möglich zu halten. Nur das gerahmte Bild einer Frau, die ein Baby auf dem Arm hält, widerspricht dem.

Ein leises Hüsteln meines Gegenübers erinnert mich wieder an den Grund, weshalb ich hier bin.
Dem Mann sind meine forschenden Blicke durch den Raum anscheinend nicht entgangen und es ist ihm sichtlich unangenehm.

„Herr Bahari", beginnt er. Ich versuche, nicht gelangweilt zu schauen, obwohl ich genau weiss, was er als Nächstes sagen wird.
Eigentlich wäre ich sowieso nicht gekommen, hätte Mara mich nicht dazu überredet. Insgeheim verfluche ich sie für ihre Hartnäckigkeit.

„Leider ...", kommt der Mann im gelben Hemd direkt zum Punkt, wofür ich ihm beinahe schon dankbar bin. Leider sind Sie für die Arbeit in diesem Unternehmen nicht geeignet, beende ich in Gedanken seinen Satz und packe meine Bewerbungsunterlagen ein, noch während der Mann, an dessen Namen ich mich nicht einmal mehr erinnere, irgendwelche Formalitäten herunterleiert.

Ich muss mich dazu zwingen, nicht laut aufzuseufzen. Nein, so viel Würde bewahre ich mir dann doch.
Die Leute müssen nicht auch noch wissen, wie sehr mich das alles frustriert. Sie wissen ja schon genug über mich. Oder denken es jedenfalls.

Die Sekretärin am Ausgang versucht gar nicht erst zu überspielen, dass sie gerade mit einer Mitarbeiterin über mich geredet hat.
Sie nickt mir auch nicht zum Abschied zu, wie sie es zuvor bei anderen Leuten getan hat, sondern sieht mir nur abwertend hinterher.

Manchmal denke ich, dass mir meine gute Beobachtungsgabe zum Verhängnis geworden ist. Dann wären mir diese kleinen Zeichen von Abscheu gar nicht erst aufgefallen.

Vielleicht aber auch einfach, weil ich in den entscheidenden Momenten zu feige war, das Richtige zu tun.
So würde ich jetzt überhaupt nicht in diese erniedrigenden Situationen geraten, in denen ich mir doch tatsächlich Gedanken darüber machen muss, wer mir diese Feigheit heute noch zurechnet.

Ich fühle mich fast schon in die Zeit zurückversetzt, in der ich solches Getuschel täglich in der Schule ertragen musste.
Von dem ganzen Hass und Sprüchen wie „Gib doch zu, dass du es gewesen bist!" oder „Von einem wie dir kann man ja auch nichts anderes erwarten" mal ganz abgesehen.

Missmutig knülle ich meinen Lebenslauf zusammen und werfe ihn in den nächsten Mülleimer.
Auch wenn ich es offen nie ausgesprochen habe, ist mir die Hoffnung darauf, endlich eine Lehrstelle oder wenigstens einen Teilzeitjob zu finden, schon vor Wochen vergangen.

Mich über mich selbst ärgernd ziehe ich durch menschenleere Strassen auf der Suche nach der Bushaltestelle, die eigentlich ganz in der Nähe sein müsste. Es ist, als würde irgendwer alles daransetzen, mich zum Scheitern zu bringen.

Egal, was ich tue, auch wenn es nur um das Finden einer verdammten Bushaltestelle geht. Vielleicht ist es ja Gott selbst. Manchmal frage ich mich, obwohl ich eigentlich nicht wirklich gläubig bin, ob er mich hasst. Für das, was ich getan habe, meine ich. Oder vielmehr, nicht getan habe.

Endlich entdecke ich das leere Bushäuschen. Ich muss mich regelrecht zusammenreissen, um nicht gegen irgendwas in nächster Nähe zu treten. Mir ist bewusst, dass sich die Wut deutlich auf meinem Gesicht abzeichnet.

Jeder, der jetzt an mir vorbeikäme, würde es sich bestimmt zwei Mal überlegen, ob er wirklich noch ganze vier Minuten neben diesem unheimlichen Typen auf den Bus warten will. Würde ich mir in diesem Moment selbst begegnen, würde mir sicher auch ziemlich unbehaglich zumute werden.

Für fünf Uhr nachmittags ist es schon ziemlich dunkel und Strassenlaternen erhellen die wenig befahrene Strasse vor mir. Ich spiele mit dem Gedanken, heute einfach gar nicht mehr zu Hause aufzutauchen. Meine Familie wäre es ja sowieso schon gewöhnt von mir.

Ausserdem habe ich keine Lust darauf, Maras endlose Fragen über das Bewerbungsgespräch ertragen zu müssen.
Oder Kiano, der mich versucht mit einer seiner kindlichen Grimassen aufzumuntern. Er tut immer so, als wüsste er von gar nichts, was passiert ist. Aber ich sehe es ihm an, jedes Mal, wenn ich nach einem Bewerbungsgespräch wiederkomme und frustriert die Tür zuschlage.

Ein Glück bekommt wenigstens meine Mutter nichts von alledem mit, wenn sie erst spät in der Nacht vom Arbeiten kommt. Ihr möchte ich am allerwenigsten noch mehr Last auf die Schultern laden, als ich es die letzten eineinhalb Jahre ohnehin schon getan habe.

Der Bus kommt vor mir langsam zum Stehen und die Tür öffnet sich mit einem Zischen. Ich steige nicht ein.

• • •

Liebe Leser

Vielen Dank, dass ihr mein Buch "Gefangener meiner Identität" ausgewählt habt. Die Idee zu dieser Geschichte ist mir schon lange im Kopf herumgeschwebt und jetzt habe ich sie endlich aufgeschrieben. :)
Ich wünsche euch viel Spass beim Lesen und hoffe, die Geschichte gefällt euch!

~ ElenaFleming

Gefangener meiner IdentitätWo Geschichten leben. Entdecke jetzt