Nachtballett

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Sie ruft uns. Hört ihr ihre Stimme? Sie ruft uns nicht. Sie hasst uns, sie sperrt uns aus. Mich lässt sie ein. Mit mir geht sie abends zu Bett. Mit uns betrachtet sie die Sterne. Ich schlafe in ihrem Herzen. Wir haben sie immer begleitet. Uns hasst sie. Mich versteckt sie. Ich kämpfe gegen dich. Du kannst mich nicht besiegen. Sie hasst dich. Ich werde kommen. Ich lasse sie nicht mehr los.

„Siehst du seine gierigen Klauen, wie er sie gen Himmel streckt? Als wolle er die Sterne vom Himmel holen und sich mit ihnen schmücken." „Aber meine liebe Odette. Du lässt dich von deiner Fantasie hinreißen. Ein lebloses Gebilde aus Eisen ist dieser Turm, nichts weiter."
Vorsichtig war Gabriel neben sie getreten. Leise lachend und unauffällig wie immer. Liebevoll betrachtete er ihre konzentrierten Gesichtszüge, die hinaus auf den spätherbstlichen Himmel gerichtet waren. Einige pechschwarze Strähnen hatten sich gelöst und tanzten um ihre Wangen. Sie kaute mit leicht zusammengekniffenen Augen auf ihrer Unterlippe, die Arme waren vor der Brust verschränkt, als wäre ihr kalt. Kein Wunder, denn über den Dächern ballten sich grau und drückend die Regenwolken. Ein scharfer Wind trug die Laute und Gerüche einer geschäftigen Stadt herauf. Kein Abend für einen Spaziergang. Mit gesenkten Köpfen und hastigen Schritten eilten die wenigen Passanten dahin, trockenes, verwesendes Laub wirbelte um ihre Füße.
Das Zimmer hinter ihnen lag ähnlich kühl und wenig einladend da; im Kamin sammelte sich die kalte Asche und zwischen den Kerzenhaltern des Kronleuchters hatte sich eine Spinne eingenistet, deren Fäden bereits Staub ansetzten. Eine perfekte Hausfrau würde aus Odette wohl nicht mehr werden. Dieser Raum wenigstens, beinahe ein kleiner Saal, bekam noch seine wohlverdiente Aufmerksamkeit. Er war über die Jahre zum Zentrum ihres Tuns geworden. Laut hätten die Schritte auf dem spärlich möblierten Boden widerhallen müssen, wären da nicht die tiefroten Vorhänge gewesen, die einiges an Lärm schluckten und gegen zugige Fenster halfen. Hier wurde regelmäßig gefegt, gewischt, geräumt. Und in der Dunkelheit langer Winternächte waren die Gedanken ihrer Besucher ohnehin anderer Natur. Während die Sonne nun langsam hinter den Dächern verschwand und das Unwetter drohend heraufzog, traten die dunklen, skelettartigen Verstrebungen des Turms nur umso deutlicher hervor. Was immer Eiffels Konstruktion auch für die Stadt bedeuten mochte, in Odettes Augen jedenfalls mahnte er überdeutlich vor den Gefahren des Vormarsches neuer Technologien. Diese Aufbruchsstimmung war ihr zuwider. „Sie werden mir nicht mehr glauben. Sie werden mir einfach nicht mehr glauben." Bedrückt und fassungslos schüttelte sie den Kopf. „Immer neue Berichte, die aufdecken und bloßstellen. Sie genießen es, aus allem eine Wissenschaft zu machen. Wo soll die Zukunft uns bloß hinführen?" Sie sprach mehr zu sich selbst, als zu Gabriel und neigte sich aus dem Fenster, als wäre die Antwort dort draußen zu finden. „Wovor hast du Angst? Trauernde haben schon immer alles geben, um ein wenig Trost zu finden. Und andere treibt die schiere Neugierde an." Lächelnd griff Gabriel nach ihrer Hand und suchte in ihren Augen nach der üblichen Vorfreude. „Sie vertrauen dir. Ganz Paris spricht von deinen Künsten. Viele Skeptiker würde es brauchen, um dem entgegenzuwirken."
Sein klarer Blick schien direkt nach ihrem Herzen zu tasten. Lange hielt sie dieser entwaffnend ehrlichen Besorgnis nicht stand, er rührte zu oft an Dingen, die besser verborgen blieben. In Gedanken entkam sie bereits der unangenehmen Situation, als das liebevolle Lächeln seine Augen plötzlich nicht mehr erreichte, als wäre dahinter ein Licht verloschen. Irritiert öffnete sie den Mund, drehte dann aber schnell den Kopf zur Seite und schlug ruckartig das Fenster zu. Gabriel starrte sie unverwandt an. Wie abgeschnitten verstummte das Klappern der Pferdehufe, kurz herrschte peinliches Schweigen. „Es wird Zeit, alles vorzubereiten. Lass uns beginnen!", verkündete Odette schnell und durchquerte mit festen Schritten den Raum. Kurz noch huschten die Schatten über Gabriels Gesicht, dann nahm auch er seine Arbeit auf.

Mit feuchten Fingern trommelte der Regen auf den Scheiben. Von Zeit zu Zeit wurde ein kleiner Ast gegen die Fenster geweht. Auch der letzte Funken Tageslicht war ausgesperrt. Grobe Stoffbahnen deckten das Fensterglas beinahe lückenlos ab. Davor streiften die schweren, roten Vorhänge mit ihren Säumen den Boden und brachten einen Hauch von Bühnenluft zwischen die Wände. Als einzige Lichtquelle flackerten Kerzen auf einem Tisch am hinteren Ende des Raumes und ein einsames Licht auf dem Klavier. Rundum war der Raum in geheimnisvollem Dämmerlicht versunken. Sorgsam entzündete Odette nun die letzten Kerzen, rückte sie in ihren Haltern zurecht, pickte hier und da noch ein Körnchen Staub auf, reinigte Tisch wie Kerzenhalter von letzten Wachsrückständen oder verräterischen Fingerabdrücken. Schmunzelnd ließ Gabriel sich vor dem schwarzen Flügel nieder und stimmte mit sichtlicher Leidenschaft eine traurige, gläsern klingende Melodie an. „Es soll ihnen kalt den Rücken hinunterlaufen. Spiele noch ein wenig mehr von der Angst und den Schrecken der Dunkelheit. Ja, so ist es wundervoll!", rief Odette ihm zu und tanzte mit einigen federnden Schritten in seine Richtung. Kalt und schneidend hallten die Töne von den Wänden wider.
„Was für eine Atmosphäre!" Freudig erregt schlug sie die Hände zusammen. „Der Wind und der Regen, die Nacht, der Kerzenschein. Diese Musik. Haben wir es je besser getroffen?" Das rötliche Licht verlieh ihrem Strahlen etwas Teuflisches, ihren Augen einen gierigen, fiebrigen Glanz. Sie war in ihrem Element. Zahlreiche Ringe an den schlanken Fingern funkelten und wann immer Odette in den Lichtschein geriet, wurde ihr Schatten gespenstisch groß an die Wände geworfen. Blass wanderte ihr Spiegelbild durch die vielen Rahmen, als sie ihren Tanz fortsetzte. Und während das Stück in einem gänsehauterzeugenden Missklang endete, setzte Odette wie einen Schatz ein filigranes, silbernes Glöckchen zwischen die tropfenden Kerzen.

Die mit den Toten tanzt #Ideenzauberaward2019 Where stories live. Discover now