Totenwalzer

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Der Regen wusch die Nacht fort. Und mit ihr zog er ab, um dem Tag den Vortritt zu lassen. Noch lag Paris schläfrig an den Ufern der Seine, einem allerdings hatte die vergangene Nacht keine Ruhe gebracht. Ein einziger Wahn, irgendwo zwischen Wachen und Traum war der lange Weg zu Gabriels Quartier gewesen, mitten im strömenden Regen. Unruhig war er die nächsten Stunden vor seinem Bett auf und ab gewandert, bis eine unbestimmte Angst und das quälende Gefühl, einen entscheidenden Erinnerungssplitter verloren zu haben ihn wieder zurücktrieben. Etwas Unerhörtes, Unerklärliches, Unfassbares war geschehen und die möglichen Zeugen hatte er höchstpersönlich hinausgeleitet, unerkannt im Schutz der aufgebrachten Schar. Odette war am Ende ihrer Kräfte gewesen. Er sah sie vor sich, die fiebrigen Augen, ein Glas in der Hand. Er hatte sie zu ihrem Bett geleitet und ihr das zerzauste Haar aus dem Nacken gestrichen. Da war die Kette gewesen, die er ihr im vergangenen Sommer geschenkt hatte. Die Kette. Die Kette. Und dann ein schwarzer, klaffender Riss. Trübe Erinnerungen an seinen Marsch durch den Regen. Was war vorgefallen? Warum hatte er seine Odette gestern verlassen? Sie hatte seinen Trost bitter nötig gehabt.
Während Gabriel also grübelnd durch die regennassen Straßen eilte, schmunzelte er plötzlich über sich selbst. Sieben Uhr, später konnte es nicht sein und schon war er wieder unterwegs. Diese Frau hatte ihm vollkommen den Kopf verdreht. An einem eisigen Novembermorgen, der nach Regen, Staub und welkem Laub roch, erschienen ihm die Ereignisse der letzten Nacht unwirklich. Wenn es nun Alkohol gewesen war? Unschlüssig hielt Gabriel inne und starrte eine Weile die Straße hinab. Sofort machte sich wieder eine beklemmende Unruhe breit, er durfte jetzt nicht anhalten. Ein Großteil des Weges war ohnehin zurückgelegt. Als er schließlich weiterging, beschleunigten sich unbewusst seine Schritte, bis er regelrecht über das glänzende Pflaster jagte und sein Herz raste.

Morgendlicher Frieden. Gabriel stand mitten im dunklen, kühlen Flur, noch nach Luft schnappend und mit Seitenstechen. Auf den Treppen hatte er die letzte Zurückhaltung verloren und zu laufen begonnen. Jetzt stand er hier und kam sich lächerlich vor. Vermutlich würde er sie aus ihrem wohlverdienten Schlaf reißen und sich ihren Spott einhandeln.
Hereinzukommen war einfach gewesen – die Wohnungstür war in der letzten Nacht nicht mehr verschlossen worden. Zu seiner Linken stand die Tür zum Schlafzimmer eine Handbreit offen. Weiter vorne klapperte ein offenes Fenster im Luftzug. Die tiefroten Vorhänge bauschten sich und wo einer zur Seite verweht wurde, blitze erstes Tageslicht herein. Er tat einen zaghaften Schritt auf das Schlafzimmer zu und grub seine Finger in die Krempe seines Hutes. Scheußlich laut knarrte der Holzfußboden bei jedem Schritt.
Draußen flogen mit empörtem Gekrächze zwei Vögel vorbei und die groben Anweisungen eines Mannes schallten von der Straße herauf. Jeder Laut ließ ihn herumfahren, als hätte er Beobachter zu fürchten. Hier im Flur war es, näher betrachtet nicht einfach kühl, es war eiskalt, Gabriel lief schon eine Gänsehaut über die Arme. Mit heftig pochendem Herzen spähte er in den dunkeln Schlitz, den die Tür freigab. Noch konnte er umkehren und ... Welchen Anblick wollte er sich ersparen? Was war nur los mit ihm? Es war doch lächerlich. Und trotzdem hob er seine Hand nur widerwillig und legte sie auf den Knauf, der augenblicklich feucht von Angstschweiß war. Vor seinem inneren Auge tanzten Bilder, die ihm das Blut in den Ohren rauschen ließen. Die Kette. Die Kette. „Nun nimm dich zusammen. Was soll schon geschehen sein?", schallt er sich selbst und trat, bevor er es sich noch anders überlegen konnte, ein. Nur, um bald wie betäubt von Übelkeit und Entsetzen zu sein. Da lag sie, noch im grünen Kleid der vergangenen Nacht. Ein langer Riss zog sich vom Saum bis zur Hüfte, das Bett war zerwühlt und einer ihrer Schuhe fehlte. Der linke Arm hing schlaff über die Kante des Bettes. Eine kleine Flasche aus braunem Glas war bis vor die Schwelle über den blanken Fußboden gerollt und hatte die schillernde Spur einer klaren Flüssigkeit nach sich gezogen, die wie flüssiges Gold glitzerte im Licht eines Kerzenstummels. Sie hatte doch nicht etwa ... Dieses elende Schmerzmittel. Wie oft er sie gewarnt hatte, es wäre zu stark. Oder was ... In ebendieser Minute schmolz auch der letzte Rest Wachs in sich zusammen und die Flamme verlosch mit einem feinen Schleier grauen Rauchs. Etwas ging hier zu Ende. Dann sah er das Blut und eine heiße Welle des Schreckens fuhr durch seinen Körper. Kette. Kette. Kette. Dunkle, halb verkrustete Striemen wanden sich um den Hals, die rechte Hand, ebenfalls blutverschmiert, hielt immer noch die Kette, die diese Wunden verursacht haben musste. Kaum wagte er den Blick auf das Gesicht, die Verletzungen strahlten eine grausame Faszination aus. Wer ... Endlich riss er sich los von dem Anblick, trat einen taumelnden Schritt vor und starrte Odette direkt in die blauen Augen. Doch die Iris wurde fast vollkommen verschluckt von den unnatürlich geweiteten Pupillen, wie sie ein Medikament verursacht haben mochte. Diese Augen waren tot. Und der starre, leere Blick hielt Gabriel gefangen. Er war nicht mehr in der Lage, die Augen abzuwenden. Nicht, als er sich wie betäubt bekreuzigte, nicht, als er schwerfällig auf die Knie sank, nicht, als die Flüssigkeit am Boden den Stoff seiner Hose durchtränkte und ihr beißender Geruch ihm die Tränen in die Augen trieb, die er so mühsam zurückzuhalten versuchte. Unbeholfen und stockend suchte er nach einem Lebenszeichen, kaum bekam er die zitternden Hände unter Kontrolle. Es war vergebens, war auch der Körper noch warm, als läge Odette in einem tiefen Schlaf. Wenn nur die Augen nicht gewesen wären, die letzten Sekunden für immer darin gefangen. Nach einem letzten, langen Blick schloss er behutsam die Lider und hob den schlaffen Körper vollständig auf das Bett. „Mein Engel, was ist geschehen?", flüsterte er der Toten ins Ohr, bevor er sich von ihr löste. Ein dünnes Rinnsal Blut besudelte die weißen Laken. In weiter Ferne stritten die beiden Raben, sie kreischten und schlugen aufgebracht mit den Flügeln. Die Erklärung war kurz greifbar, bis sie wieder untergingen in dem unendlichen schwarzen Loch, das sich tief in ihm aufgetan hatte. Erstaunlich, wie ruhig es ihn werden ließ. Sein Herz war taub geworden mit der Erkenntnis, dass auch ihres nie wieder schlagen würde. Er tat hier also, was getan werden musste und spürte die Augen der Dunkelheit nicht in seinem Nacken. Während er die Hände der Toten vor der Brust faltete und ihren Kopf sanft zur Ruhe bettete, ertönte das Klavier und der letzte Spiegel barst. Etwas war zu Ende gegangen.

Darf ich bitten? Ich bin gekommen. Ich habe sie geholt. Tanzt mit ihr. Tanzt. Wir wollen uns drehen und im Takt der Musik bewegen. Tanzt. Tanzt mit Odette.

Die mit den Toten tanzt #Ideenzauberaward2019 Where stories live. Discover now