Kapitel 1

32 0 0
                                    

Südlich von Trima, der Hauptstadt der Menschen in der Neuen Welt und nahe der Grenze zum Greenleaf Forest, liegt Keillun. Das Dorf steht dort, wo einst ein Stamm von Katzenkobolden lebte. Stolze Krieger, die den Menschen in vieler Hinsicht überlegen waren. Doch nicht in ihrer brutalen Stärke. Ihre Intelligenz und ihr Erfindergeist überstiegen die Fähigkeiten der Menschen um vieles, doch als die Felllosen mit Waffen kamen und ihre eigenen Maschinen bauten, blieb den Kobolden bloß die Flucht in den Untergrund. Die Stämme ihrer Gebiete beraubt waren sie nicht mehr in der Lage, sich zu versorgen. Viele erlagen dem Hunger oder Krankheiten, ausgelöst durch das Leben in dunkler, feuchter und dreckiger Umgebung. So sehr sie die Menschen auch hassten, waren sie nun von ihnen abhängig und schlugen sich als Diebe durch. Unter den Menschen wurden Geschichten über die Katzenkobolde erzählt. Die verbannten Kreaturen aus dem Schatten, die nachts die Ernte vernichteten, alles stahlen, was sie bekamen und Kinder, die noch spät auf waren, mit ihren scharfen Zähnen umbrachten. So hegten auch die Menschen Abscheu gegen die Kobolde.
In der Mitte von Keillun stand eine Kirche mit einem hohen, alten Glockenturm. Sie war das erste Gebäude, das die Menschen an diesem Ort errichtet hatten. Die Älteren unter den Kobolden erinnern sich wohl noch, als die ersten Steine an diesen Ort getragen worden waren. Ganz oben im Turm, wo eine riesige, alte Messingglocke schweigend von der Decke hängt, saß eine kleine, unscheinbare Gestalt, die vom Dorfplatz aus kaum sichtbar war. Eine junge Koboldin. Sie saß auf den Mauersims gehockt da und überblickte die Umgebung mit scharfen Augen, welche die Farbe von Sommergras besaßen. Ihr geschmeidiges, grau-braunes Fell wurde an den Wangen von dem Wind, der um den Kirchturm blies, zerzaust. Ein paar spitzer Ohren ragte aufmerksam aufgestellt aus ihrer Kapuze hervor, die Teil ihrer dunkelgrünen Tunika war. Ihren langen, geringelten Schwanz hatte sie ordentlich um Hinterpfoten und Hände gelegt, doch die Spitze zuckte jedes Mal, wenn sich unten im Dorf etwas rührte. Die Sonne war gerade erst aufgegangen. Noch war es recht ruhig in den Häusern der Menschen, doch bald würden sie mit ihrem Tagewerk beginnen.
Hinter der Koboldin knarzte eine Holzdiele. Sie hielt den Atem an und drehte das rechte Ohr ein wenig nach hinten. Ihre rosafarbene Nase zuckte prüfend, als sie den vertrauten Geruch aufnahm. Sie entspannte sich.
„Du bist schrecklich im Anschleichen, Rinta", bemerkte sie, ohne sich umzudrehen.
„Den Spruch kannst Du dir sparen, Pariwanta. Was machst Du schon wieder hier? Manta hat dir verboten, hier her zu kommen! Du kannst froh sein, dass ich dich vor ihm gefunden habe." Rinta sprang neben ihr auf den Sims, rutschte mit der Hinterpfote über die Steinkante und verlor das Gleichgewicht. Pariwanta schnappte ihn am Kragen und zog ihn zurück. Er landete auf dem Sims, das Nackenfell gesträubt.
„Hier ist es wirklich gefährlich", bemerkte er und begann damit, sein zauseliges, hellgraues Fell mit den Krallen seiner Finger zu kämmen.
„Nur, wenn man sich so dämlich anstellt wie Du", grinste Pariwanta. Rinta versuchte, ihr mit der Hand auf den Kopf zu hauen, doch sie wich ihm beinahe mühelos aus.
„Sei nicht immer so gemein zu mir. Ich lerne noch! Außerdem rede ich nicht nur von der Höhe ... was machst Du, wenn so ein Fellloser hier hinauf kommt, um die Glocke zu läuten?"
„Die kommen hier um die Zeit nicht rauf. Erst eine Stunde nach Sonnenaufgang. Und dann noch einmal, wenn sie am höchsten steht. Und zuletzt eine Stunde nach Sonnenuntergang", erklärte Pariwanta gelassen. Rinta starrte sie fassungslos aus seinen riesigen, blauen Augen an.
„Woher weißt Du das?", fragte er aufgebracht.
„Glaubst Du, ich würde hier her kommen, wenn ich nicht wüsste, dass es sicher ist?"
„Ja", antwortete der junge Kobold trocken. Pariwanta haute ihm mit der Hand auf den Kopf. Unten auf dem Platz begann sich etwas zu regen. Die beiden Kobolde schauten neugierig über die Kante des Simses hinunter, wo die Menschen damit begannen, ihre Marktstände aufzubauen, wo sie dann ihre Waren verkaufen würden.
„Sind sie nicht faszinierend?", flüsterte Pariwanta, während sie das immer reger werdende Treiben beobachtete.
„Faszinierend? Ist das dein Ernst?", grummelte Rinta und hörte damit auf, sich den Kopf zu reiben. „Das sind doch nur Menschen. Die sind fast so dumm wie Brot. Aber auch nur, wenn das Brot nicht schimmelt. Außerdem machen sie uns das Leben schwer. Du weißt doch, was sie mit uns anstellen, wenn sie einen von uns erwischen!"
„Ja, das weiß ich. Aber ich finde sie trotzdem erstaunlich. Sie sind so ... riesig! Und felllos! Ist es nicht ein Wunder, dass sie im Winter nicht erfrieren?"
„Pariwanta, der Trick nennt sich Kleidung. Du weißt schon. Das, was Du auch an hast." Sie warf Rinta kurz einen genervten Blick zu.
„Ich würde sie gerne mal näher kennenlernen. Ich möchte wissen, was sie denken. Menschen haben doch sicher auch eine Kultur, oder? Sie bauen ja sogar diese hohen Türme für ihren Gott."
„Weil sie blöd genug sind, sich so eine Mühe zu machen", murmelte Rinta und wich gerade so einem weiteren Hieb auf den Kopf aus. Hinter ihnen knarzte erneut eine der Holzdielen und die beiden Kobolde spitzten sofort die Ohren.
„Da kommt einer!", flüsterte Rinta, offenbar der Panik nahe.
„Bleib ruhig und komm mit", flüsterte Pariwanta zurück. Sie drehte sich um, ließ sich von der Kante des Simses gleiten und baumelte kurz dort, dann schwang sie sich nach vorne und sprang durch ein schmales Fenster in das Treppenhaus des Glockenturmes. Vor sich sah sie gerade noch den Schatten eines Menschen, der soeben um die Kurve nach oben verschwunden war.
„Rinta!", zischte die Koboldin und sah im nächsten Moment ein paar Hinterpfoten auf sich zu fliegen. Sie sprang zur Seite und der junge Kobold landete neben ihr auf den Treppen.
„Du hast doch gesagt, der kommt erst eine Stunde nach Sonnenaufgang!", beschwerte er sich leise, während sie die Treppe nach unten liefen.
„Ich habe wohl die Zeit übersehen", flüsterte Pariwanta zurück.

Keillun wurde durch einen großen Hügel von der Grenze des Greenleaf Forest getrennt, so war das Lager der Katzenkobolde meist vor den Blicken der Menschen geschützt. Über die Jahre haben sie Höhlen und Gänge in den Hügel gegraben und diese zu ihren Behausungen gemacht. Rinta und Pariwanta hatten den Hügel umrundet, da sie zu leicht zu sehen gewesen wären, hätten sie ihn direkt überquert. Am Fuß des Hügels, an dem sich mehrere Tunneleingänge befanden, die jedoch zum Großteil hinter Gestrüpp verborgen waren, stand ein hellbraun getiegerter Katzenkobold mit weißem Bauch. Er sah sich ungeduldig um, und als er die beiden Jüngeren näher kommen sah, verschränkte er die Arme vor der Brust. Seine tiefblauen Augen sahen sie vorwurfsvoll an.
„Da seid ihr ja endlich. Wo habt ihr gesteckt?", wollte er wissen, sobald Rinta und Pariwanta in Hörweite waren.
„Entschuldige, Manta. Wir waren in den Feldern, Mäuse fangen", antwortete Pariwanta. Rinta widersprach nicht. Vermutlich, weil er wusste, dass er ebenfalls nicht auf den Glockenturm hätte klettern dürfen. Selbst wenn es gewesen war, um Pariwanta zu finden.
„Ihr seid heute für den Jagdtrupp B eingeteilt. Lilita führt die Gruppe. Sie wartet schon viel zu lange auf euch, also beeilt euch besser", brummte Manta und hinterfragte die Geschichte zu Pariwantas Erleichterung nicht. Die zwei jüngeren Kobolde nickten und machten sich schnell auf den Weg zum Waldrand, um Lilita und den Rest der Gruppe zu treffen.
„Hoffentlich ist Lilita nicht zu sauer auf uns", murmelte Rinta, sichtlich besorgt.
„Wenn sie sauer auf jemanden ist, dann auf mich. Mit dir ist sie nie so streng!"
„Sie ist ja auch die Schwester meiner Mutter."
„Muss praktisch sein", lachte Pariwanta. Bevor Rinta noch etwas sagen konnte, tauchte vor ihnen die Waldgrenze auf. Am Fuß einer der alten Eichen saßen zwei Kobolde. Lilinta war schon von Weitem an ihrem weißen Gesicht zu erkennen, der Rest ihres Fells hatte die Farbe von dunklem Fels, wie das von Rinta. Sie trug eine dunkelblaue Tunika und eine braune Hose, die sie mit einem roten Streifen Stoff um die schmalen Hüften zusammengebunden hatte.
„Ihr habt ja ganz schön lange gebraucht", rief Lilita ihnen entgegen.
„Wir waren Mäuse fangen. In den Feldern", wiederholte Pariwanta ihre Geschichte.
„Habt ihr wenigstens etwas gefangen?"
„Nein, leider nicht." Die Koboldin sah sie skeptisch an, offenbar glaubte sie die Lüge nicht ganz, doch auch sie fragte nicht weiter nach. Sie wandte sich um in Richtung der Waldgrenze.
„Katta. Sie sind hier", rief Lilita dem Kobold zu, der noch immer am Fuß der Eiche saß. Er drehte ihnen den Kopf zu und seine goldgelben Augen blinzelten ihnen entgegen. Er stand geschmeidig auf, glättete in der selben Bewegung das weiche, rote Fell, das sein Gesicht umrahmte mit den Händen und streckte sich dann ausgiebig. Ein wichtiges Ritual der Katzenkobolde. Wenn sie sich nach längerem Ruhen nicht streckten, wurden ihre Muskeln steif. Sie gingen zu Katta hinüber, der die Kapuze seiner grauen Tunika zurückschob und ihnen zunickte.
„Guten Morgen, ihr zwei", begrüßte er sie. Er hatte eine sanfte, dunkle Stimme, fast, als würde er schnurren.
„Guten Morgen. Entschuldige die Verspätung." Pariwanta neigte leicht den Kopf vor ihm. Katta lächelte sie an. Rinta stand einen Schritt hinter Pariwanta und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen.
„Musst Du mal?", wollte Lilita wissen. Rinta riss die Augen auf und starrte Lilita ungläubig an.
„Nein! Und ich bin kein Junges mehr!", protestierte er lautstark.
„Schrei nicht so, sonst fangen wir heute sicher nichts", zischte Pariwanta. Rinta schlug beschämt die Augen nieder.
Sie machten sich auf den Weg in den Wald. Lilita ging mit Katta voraus, Rinta und Pariwanta folgten einige Schritte hinter ihnen.
„Was ist denn los mit dir? Hast Du Flöhe?", wollte Pariwanta wissen. Rinta sah sie böse an.
„Nein, habe ich nicht!"
„Warum bist Du dann so seltsam?" Pariwanta sah den jüngeren Kobold forschend an. Rinta biss sich verlegen auf die Unterlippe, dann prüfte er kurz, dass die zwei Älteren ihn nicht hörten.
„Ich glaube ich ... mag Katta", gab er schließlich zu. Pariwanta blinzelte überrascht.
„Wirklich? Bist Du nicht ein bisschen zu jung für ihn?" Rinta sah sie niedergeschlagen an.
„Meinst Du?"
„Das musst Du ihn fragen. Aber willst Du dir wirklich jetzt schon über so etwas Gedanken machen? Ist es nicht etwas früh, dir einen Partner zu suchen?" Rinta zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Vielleicht. Was ist mit dir? Gibt es niemanden, den Du magst?"
„Im Stamm? Nein, nicht wirklich. Ich habe auch nicht wirklich vor, für immer hierzubleiben", gab sie zu. Rinta schnappte erschrocken nach Luft.
„Du willst weggehen? Weißt Du, wie gefährlich das ist? Die Menschen könnten dich fangen! Die machen aus dir eine Mütze für den Winter!"
„Nur, wenn sie mich erwischen", murmelte Pariwanta.
„Wo würdest Du denn hingehen? Zu einem anderen Stamm?" Sie schwieg einen Augenblick, dann zuckte sie vage mit den Schultern.
„Wer weiß. Vielleicht gehe ich zu den Menschen." Rinta sah aus, als würde er gleich in Ohnmacht fallen.
„Bist Du vollkommen übergeschnappt?!"
„Halts Maul!" Pariwanta schlug ihm mit der Hand auf den Kopf. Die zwei Kobolde vor ihnen schenkten ihnen zum Glück keine Beachtung.
„Was hast Du an ‚die machen eine Mütze aus dir' nicht verstanden?", zischte Rinta nun etwas leiser.
„Werden sie schon nicht", flüsterte Pariwanta. „Ich habe einen Plan."
„Du willst doch nicht-"
„Kommt ihr? Wir sind gleich da." Lilita hatte sich zu ihnen umgewandt.
„Wir reden später darüber", murmelte Pariwanta und beeilte sich, zu den anderen aufzuschließen.

ShiftingDonde viven las historias. Descúbrelo ahora