Kapitel 3

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Sie holten Amita kurz vor dem Hügel ein, der sie von Keillun trennte. Die junge Koboldin blickte über die Schulter, als Pariwanta und Sapata näher kamen.
„Wollt ihr mich aufhalten oder mir helfen?", fragte Amita scharf.
„Umstimmen können wir dich ja offenbar nicht", brummte Pariwanta.
„Und wir lassen dich sicher nicht alleine nach Keillun spazieren!", fügte Sapata hinzu. Amitas Miene wurde etwas weicher.
„Danke", sagte sie und wandte sich um, um weiter zu gehen. „Das weiß ich zu schätzen."
„Dank uns nicht zu früh", murmelte Pariwanta.
Sie umrundeten den Hügel, an dessen Fuß dichtes Gestrüpp wuchs, in dem sie sich verstecken konnten. Vor ihnen lag Keillun. Die cremefarbenen Wände der Häuser glühten unter der Nachmittagssonne. Etwas entfernt ragte der Glockenturm gen Himmel.
„Also, wie kommen wir ungesehen ins Dorf?", fragte Amita leise.
„Die Wachen patrouillieren den Rand praktisch rund um die Uhr", erklärte Pariwanta. „Aber es gibt einen blinden Punkt. In der Nähe des Glockenturms."
„Wie hast Du das herausgefunden?" Sapata sah sie skeptisch an.
„Ich habe sie eine Weile beobachtet. Nahe des Glockenturms stehen zwei Häuser mit einer kleinen Gasse dazwischen. Und am Ende der Gasse ist eine niedrige Mauer. Sie schauen zwar in die Gasse hinein, wenn sie vorbei gehen, aber die Mauer ist gerade hoch genug, dass sie einen Katzenkobold verdeckt", erklärte Pariwanta.
„Und wie geht es von dort weiter?", wollte Amita wissen.
„Wir warten hinter der Mauer, bis eine Wache vorbei gelaufen ist. Dann klettern wir auf die andere Seite, überqueren die Straße und schleichen in den Stall, der dort steht. Das ist ein langes Gebäude und am anderen Ende ist der Glockenturm am Stadtplatz."
„Sind denn keine Menschen in dem Stall?"
„Nein, und die Kühe sind um diese Zeit auf der Weide." Sapata und Amita wechselten einen Blick.
„Was ist los?", fragte Pariwanta stirnrunzelnd.
„Nichts, es ist nur ... irgendwie seltsam, dass Du das alles weißt", meinte Sapata und zuckte verlegen mit den Schultern.
„Solange es uns hilft, Palta und Irmita zu holen, ist das doch egal. Kommt schon, sonst ist es wirklich zu spät!", drängte Amita. Sie hielten sich versteckt im Gestrüpp, während sie auf die Stelle zusteuerten, von der Pariwanta gesprochen hatte.
Der Glockenturm war nicht zu übersehen und sie erreichten auch bald die enge Gasse, in der sich einige Kisten und Fässer stapelten. Ein Mensch hätte sicher Probleme gehabt, sich zwischen ihnen hindurch zu zwängen. Die schlanken Katzenkobolde schlichen jedoch geschickt die Gasse entlang, lautlos wie Schatten. Sie erreichten die niedrige Mauer am Ende der Gasse und duckten sich, dicht an den kalten Stein gepresst, in den toten Winkel der Stadtwache. Jetzt mussten sie warten, bis eine von ihnen vorbei kam. Danach hätten sie ein paar Minuten Zeit um den Stall auf der anderen Straßenseite zu erreichen. Sie blieben still in ihrem Versteck. Es dauerte nicht lange, bis sich die schweren Schritte eines Menschen näherten. Pariwanta sah, wie sich Sapata noch kleiner machte, und Amita wohl den Atem anhielt. Die Schritte kamen schnell näher, wurden dann langsamer, als die Wache genau an der Mauer vorbei ging und einen Blick in die Gasse warf. Pariwantas Herz klopfte wie wild in ihrer Brust. Sie hatte das hier schon viele Male gemacht, doch wenn sie diesmal entdeckt wurde, waren auch andere in Gefahr. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Wache an der Gasse vorbei gegangen war und die Schritte sich entfernten. Pariwanta entspannte sich endlich wieder, Amita atmete hörbar aus.
„Weiter", flüsterte Pariwanta. Sie legte die Ohren an, damit sie nicht über die Steinmauer ragten, dann lugte sie vorsichtig über den Rand. Es war nichts zu sehen, und hören konnte sie auch niemanden. Sie nickte den anderen beiden zu, dann setzte sie einen Fuß gegen die Steinmauer und zog sich in einer, fließenden Bewegung nach oben, bevor sie sich lautlos auf die andere Seite fallen ließ. Amita und Sapata landeten kurz darauf neben ihr. Gemeinsam huschten sie über die Straße. Das Gebäude auf der anderen Seite war der Stall, von dem Pariwanta gesprochen hatte. Ein großes Gebäude mit glatten, sandfarbenen Wänden und einem roten Dach. Das erste Fenster lang jedoch recht weit oben.
„Wie kommen wir da hoch?", fragte Sapata und blickte sich nervös um. Pariwanta zögerte. Normalerweise standen hier einige Kisten, an denen man nach oben klettern konnte. Das Fenster war zum Glück wie immer offen. Doch die Kisten waren wohl entfernt worden. Sie hatten nicht viel Zeit, ihnen musste schnell etwas einfallen.
„Hier drüben", flüsterte Amita. Sie war ein paar Schritte die Wand entlang gegangen und stand jetzt am Ende des Stalls. Dort verlief ein viereckiger Balken nach unten, offenbar stützte er das Dach.
„Sehr gut, dort können wir rauf!" Pariwanta und Sapata liefen zu Amita hinüber, die bereits begann, den Balken nach oben zu klettern. Sapata grub seine krallen in das dunkle Holz und begann ebenfalls, sich nach oben zu ziehen. Pariwanta war als nächstes an der Reihe. Sie streckte die Arme und vergrub ihre Krallen in dem erstaunlich weichen Holz, zog sich nach oben und schlug auch die Krallen ihrer Hinterpfoten in den Balken. Amita war fast hoch genug, um den Fenstersims mit einem Sprung zu erreichen. Sapata war nur ein kleines Stück hinter ihr. Pariwanta war gerade dabei, sich ebenfalls nach oben zu arbeiten, als sie am Ende der Straße schwere Schritte hörte. Die nächste Wache würde bald hier sein.
„Schnell!", zischte Pariwanta nach oben und beeilte sich, den beiden zu folgen. Amita hatte die Höhe des Fenstersimses erreicht und stieß sich vom Balken ab. Sie landete und schwang sich schnell ins Innere des Stalls, um Platz für Sapata zu machen. Dieser setzte nun ebenfalls zum Sprung an, allerdings weitaus weniger elegant, als Amita es getan hatte. Eine Kralle seiner Hinterpfote musste sich im Holz verfangen haben. Er verfehlte den Sims beinahe, und Pariwanta hielt erschrocken den Atem an. Sapata schaffte es gerade so, sich mit den Händen an den Sandstein zu krallen. Amita hatte das zum Glück mitbekommen, streckte sich aus dem Fenster, packte Sapata an den Schultern und zog ihn mit einem kräftigen Ruck auf den Sims. Pariwanta atmete erleichtert aus, als sie sah, wie die beiden im Stall verschwanden. Die Wache war jetzt sehr nahe, Pariwanta konnte sie hinter einer Biegung am Ende der Straße auftauchen sehen. Sie duckte sich auf die Rückseite des Balkens und hoffte, dass der Mensch den Blick nicht nach oben richten würde. Völlig regungslos klammerte sie sich an den Balken. Ihre Muskeln begannen langsam zu schmerzen, und ihr Gewicht zerrte an ihren Krallen. Doch sie konnte sich nicht rühren, bevor die Wache verschwunden war.
Der Mensch kam näher. An der kleinen Gasse, aus der die Kobolde gekommen waren, wurde er langsamer, blickte einen Augenblick hinein, und ging dann weiter. Er ging an dem Balken vorbei. Pariwanta hielt den Atem an. Doch die Wache passierte, ohne einmal nach oben zu sehen, und verschwand dann hinter der nächsten Biegung. Pariwanta wäre vor Erleichterung beinahe vom Balken gefallen, doch sie zog sich die letzten Zentimeter nach oben und landete schließlich sicher auf dem Fenstersims.
„Das war knapp!", hauchte Sapata. „Geht es dir gut?" Pariwanta nickte und streckte ihre Finger, um die Anspannung in den Muskeln zu lockern.
„Ja, alles in Ordnung. Gehen wir weiter."
Wie Pariwanta angekündigt hatte, war der Stall vollkommen leer. Die Kühe waren zum Grasen auf die Weide gebracht worden, und auch keine Menschen waren hier. Sie durchquerten das lange Gebäude trotzdem so leise wie möglich, indem sie über die Balken unter dem Dach und den Heuboden schlichen. Am anderen Ende befand sich ein weiteres, rundes Fenster. Durch dieses konnten die Kobolde nach draußen schauen. Der Glockenturm lag etwas weiter links von ihnen, eine Straße und eine Reihe Häuser trennte sie noch vom Dorfplatz. Von dort drangen viele Stimmen zu ihnen hinauf, die aufgeregt durcheinanderredeten. Pariwanta runzelte die Stirn.
„Der Markt ist um diese Zeit schon vorbei. Es sollte nicht so viel los sein", murmelte sie.
„Was bedeutet das?", wollte Amita wissen.
„Das bedeutet, dass dort etwas passiert. Wir sollten nachsehen", erklärte Pariwanta. Ihre Begleiter nickten. Sie sahen hinab auf die Straße, doch diese schien völlig leer. Trotzdem wäre es zu gefährlich, nach unten zu klettern. Pariwanta blickte wieder auf. Das nächste Gebäude war zu weit entfernt, um den Sprung auf sein Dach zu wagen. Sie sah sich weiter um und entdeckte ein Seil, das zwischen einem Fenster des gegenüberliegenden Gebäudes und der Wand des Stalls gespannt war. Einige Kleidungsstücke hingen daran. Das Seil befand sich wenige Meter unter ihnen, der Sprung wäre riskant, aber machbar. Sie mussten nur gut zielen.
„Da runter", wies sie an.
„Was? Wir sollen auf dem Seil landen?", zischte Sapata nervös.
„Sei nicht so ein Hasenfuß! Mach einfach!" Amita gab dem anderen Kobold einen Schubs. Er taumelte zum Rand des Fensters und kletterte nach draußen, zögerte noch einen Augenblick und sprang dann nach unten. Pariwanta und Amita beobachteten gespannt, wie Sapata das Seil zu fassen bekam, daran hängen blieb, bis es aufhörte, zu schwingen, und sich dann daran nach oben zog. Er robbte das Seil entlang, bis er die Wand des gegenüberliegenden Hauses erreichte und mit einem kräftigen Sprung die Kante des Daches zu fassen bekam.
„Du als Nächstes", flüsterte Pariwanta. Amita nickte knapp und sprang, ohne zu zögern, hinunter auf das Seil. Sie hangelte sich daran entlang, bis zur Wand, dann zog sie sich nach oben und sprang. Sie erreichte die Kante und Sapata half ihr, sich nach oben zu ziehen. Pariwanta atmete tief durch. Sie sah hinunter auf die Straße, doch es war kein Mensch in Sicht, und die Stimmen kamen alle vom Dorfplatz. Als ließ sie sich ebenfalls nach unten fallen. Sie griff das Seil und spürte, wie ihr eigenes Gewicht sie nach unten zerrte. Ihr Griff verfestigte sich, sie spannte die Muskeln in ihren Armen an und wartete nur einen Moment darauf, dass das Seil aufhörte, zu schwingen. Dann hangelte sie sich ebenfalls zur anderen Straßenseite vor. Wie Sapata und Amita sprang sie hinauf zum Dach und die zwei halfen ihr nach oben. Pariwante schüttelte die Arme aus und rollte die Schultern, dann nickte sie ihren Begleitern zu und gemeinsam schlichen sie das Dach entlang, bis zur Kante, von wo aus sie den Dorfplatz überblicken konnten.
Der Glockenturm ragte links von ihnen gen Himmel, der sich langsam rosa färbte. Es wurde allmählich dunkel. Unten auf dem Platz hatten sich viele Menschen versammelt. Männer, Frauen und Kinder drängten sich vor dem Glockenturm zusammen und redeten aufgeregt durcheinander. Pariwanta streckte den Kopf etwas vor, um besser sehen zu können.
„Was die wohl sagen?", flüsterte Amita. Pariwante spitzte die Ohren.
„Ich kenne die meisten Worte nicht", wisperte sie zurück. „Aber ein Wort kenne ich sehr gut."
„Welches?"
„Kobold." Die anderen beiden reckten sich nun ebenfalls nach vorne. Offenbar standen die Menschen vor einer Art Plattform mit zwei großen Pfählen, die darauf aufgestellt worden waren. Die Menschen schienen ihren Blick dorthin gerichtet zu haben, sie wirkten sehr nervös. Als sich ein großer Mann kurz hinunter bäugte, erkannten die Kobolde auf dem Dach, weshalb die Pfähle so besonders waren. Dort waren zwei Kobolde angebunden.
„Da! Das sind sie!", flüsterte Amita aufgeregt. Die Sicht war bereits wieder verdeckt, doch auch Pariwanta war sich sicher, dass es sich um Palta und Irmita handeln musste. Mit ihrem hellen Fell waren die Zwillinge auch aus der Ferne unverwechselbar.
Am vorderen Ende der Plattform stand ein hagerer, groß gewachsener Mann mit grauem Haar, der durch seine ungewöhnliche, robenartige Kleidung hervorstach. Er bellte etwas sehr Lautes, und die Menge wurde still.
„Der muss wichtig sein", murmelte Sapata.
„Der lebt in dem Gebäude, das zum Kirchturm gehört. Ich habe ihn manchmal gesehen. Hin und wieder gehen die Menschen dort hinein und er spricht zu ihnen, dann sind sie ganz still und ehrfürchtig", erzählte Pariwanta. „Ich glaube, er ist ihr Anführer."
„Verstehe. Dann müssen wir ihn zuerst ausschalten", zischte Amita düster.
„Wir sollten einen Kampf meiden. Gegen so viele Menschen haben wir sowieso keine Chance."
„Wir sind ja auch nur zu dritt", fügte Sapata hinzu.
„Habt ihr denn einen besseren Vorschlag?", brummte Amita. Pariwanta überlegte. Ihr Blick wanderte am Dorfplatz entlang. Viele Gassen breiteten sich fächerförmig von diesem Zentrum aus.
„Ich habe eine Idee." Pariwanta zog sich etwas vom Rand des Daches zurück. „Aber es wird sicher nicht ungefährlich." Amita sah sie aufmerksam an. Sapata wirkte etwas nervös, nickte aber ernst.
„Was immer nötig ist", sagten die beiden im Gleichklang.

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