Kapitel 2

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Die Jagd verlief nicht übermäßig gut. Zwar war es Frühling, und der Sommer stand kurz vor der Tür, doch auch an solchen Tagen war die Beute oft knapp. Seit die Menschen begonnen hatten, ihre Dörfer zu bauen, und die weiten Wiesen der Ebene in Felder zu verwandeln, hatten sich viele Tiere tiefer in den Greenleaf Forest zurückdrängen lassen. Es war auch nicht einfach, sich weiter von den Hügeln zu entfernen, um an einem anderen Ort zu jagen. Immerhin musste die Beute auch noch den ganzen Weg zurückgebracht werden. Für einen Menschen war das sicher nicht so schwer. Aber für einen Katzenkobold, der einem Felllosen gerade bis über das Knie reichte, war das ein völlig anderer Aufwand.
Die kleine Jagdgruppe, angeführt von Lilita, hatte heute bloß einen Feldhasen und eine Waldtaube erwischen können. Die Taube hatte Rinta gefangen, was die anderen ziemlich beeindruckt hatte, da er sich normalerweise eher ungeschickt anstellte. Offenbar war er fest entschlossen, Katta zu zeigen, dass er kein unbeholfenes Junges mehr war.
Als sie den Wald verließen, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Der Wind malte silberne Wellen auf was sich wiegende Gras und die Luft roch nach Kamille und Sauerampfer.
„Meint ihr, es regnet bald mal?" Pariwanta sah hinauf zum wolkenlosen Himmel und schirmte mit der Hand ihr Gesicht vor den Strahlen der Mittagssonne ab.
„Hoffentlich", seufzte Lilita. „Der Sommer hat noch gar nicht richtig angefangen, aber die Trockenheit macht uns jetzt schon zu schaffen."
„Wenn es so bleibt, finden wir hier sicher bald keine Beute mehr", fügte Katta hinzu.
Sie folgten dem sanften Abstieg vom Waldrand in die Ebene, zurück zu dem Hügel in den der Stamm seine Behausungen gegraben haben. Von Weitem konnte Pariwanta eine Gruppe von drei Kobolden erkennen, die sich dem Hügel aus Richtung der Felder näherten.
„Das ist wohl der andere Jagdtrupp", murmelte Lilita. Sie trafen kurz vor dem Hügel mit den Dreien zusammen.
„Hallo, Lilita. Wie lief die Jagd?", begrüßte sie Wota, der die Gruppe offenbar angeführt hatte. Er hatte rot-schwarz gemustertes, glattes Fell und gelbe Augen, wie die von Katta. Was nicht verwunderlich war, immerhin waren die beiden Brüder.
„Mittelmäßig. Und bei euch?", wollte Lilita wissen.
„Hätte besser sein können. Amita hat eine Wühlmaus erwischt. Das war's leider." Lilita sackte sichtlich zusammen. Das war wirklich keine gute Ausbeute. Und Amita galt immerhin als die beste Jägerin des Stammes.
„Morgen läuft es sicher besser", versuchte Katta die Stimmung wieder etwas zu heben.
„Vielleicht", murmelte Lilita. Sie wandten sich um in Richtung des Hügels, um ihre karge Beute heimzubringen. Amita und Sapata, der Dritte der Gruppe, ließen sich zu Rinta und Pariwanta zurückfallen, während Lilita, Katta und Wota vorangingen.
„Das ist sicher die Schuld der Menschen", grummelte Amita, und streckte sich im Gehen. Das Sonnenlicht reflektierte sich in den goldenen Streifen ihres ansonsten graubraunen Fells.
„Was meinst Du?", wollte Rinta wissen.
„Dass die Beute verschwindet. Die Menschen vergrößern ihre Felder. Ihre Dörfer werden zu Städten und ich wette mit euch, dass ihnen auch bald der Wald weichen muss."
„Dieses Jahr haben wir einfach wenig Regen", bemerkte Sapata und zuckte mit den Schultern. „Wenn es wieder regnet, kommt auch die Beute wieder."
„Und wie sieht es in einem Jahr aus? Oder in zwei? Menschen wissen nicht, wann es genug ist. Sie werden das ganze Land in eine Einöde verwandeln."
„Und was sollen wir deiner Meinung nach machen?"
„Vielleicht können wir uns ihnen anschließen", murmelte Pariwanta, doch offenbar war sie laut genug gewesen, dass die anderen drei sie gehört hatten. Rinta sah schon wieder aus, als würde er gleich ohnmächtig werden. Sapata runzelte die Stirn und Amita sah sie an, als wäre sie vollkommen übergeschnappt.
„Hast Du einen Sonnenstich? Wir sollen uns den Menschen anschließen? Wie stellst Du dir das vor? Willst Du zu ihnen hingehen, sie bitten, dir nicht das Fell über die Ohren zu ziehen und ihr Haustier werden?" Pariwanta funkelte sie böse an.
„So habe ich das nicht gemeint!"
„Und wie dann? Menschen sind unsere Feinde, Pariwanta! Sie haben uns verjagt. Wegen ihnen können wir kaum noch überleben. Schau doch, was sie mit deinen Eltern gemacht haben! Und mit Rintas! Willst Du enden wie sie?" Rinta schnappte erschrocken nach Luft, die blauen Augen schienen ihm fast aus dem Schädel zu fallen.
„Amita, das reicht", fuhr Sapanta sie an. „Das geht wirklich zu weit." Amita sah hinüber zu Pariwanta, die sichtlich mit den Tränen kämpfte. Sie sah wieder weg.
„Aber es ist doch wahr", murmelte Amita. „Wir sollten sie hassen."
„Und was bringt uns das?", fragte Pariwanta, ohne aufzusehen. Die Kälte in ihrer Stimme ließ die anderen trotz der Hitze erschaudern. „Was haben wir davon, sie zu hassen? Mehr Kummer, mehr Leid. Mehr Tod. Ich will mich nicht mein Leben lang vor ihnen in dunklen, feuchten Höhlen verkriechen."
„Und was willst Du sonst tun? Die Menschen hassen uns doch auch. Als Katzenkobold werden sie dich nie aufnehmen."
„Nein", murmelte Pariwanta. „Da hast Du recht."
Amita und Pariwanta sprachen während des restlichen Weges kein Wort mehr miteinander. Auch Rintas Augen schienen Stumpf vor schmerzlicher Erinnerung. Sapata versuchte, ihn ein wenig aufzumuntern, doch mit wenig Erfolg. Zurück bei den Höhlen wartete Manta bereits auf sie. Er und Lilita stupsten zur Begrüßung ihre Nasen aneinander.
„Wie war die Jagd?", wollte er daraufhin wissen. Die Jäger zeigten Manta ihre karge Ausbeute des Tages. Der getiegerte Kobold verzog nur kurz die Miene und seufzte, dann sah er die anderen aufmunternd an.
„Kein Problem. Wenn es wieder regnet, wird es sicher besser." Sie murmelten zustimmend, doch keiner von ihnen wirkte sonderlich überzeugt.
„Iskata und Ata sind heute im Lageraum, also bringt alles zu ihnen. Katta und Rinta, ihr übernehmt heute das Wasserholen."
„Sollte nicht Palta mitkommen?", wollte Katta wissen. Manta schwieg einen Augenblick.
„Palta und Irmita sind heute Morgen nach Keillun gegangen, um Vorräte zu beschaffen. Sie sind noch nicht zurück."
„Was?!" Lilita sah ihn aus ungläubigen Augen an. „Dann müssen wir sie suchen!"
„Das wäre zu gefährlich, und das weißt Du. Wir können heute nach gehen, wenn die Menschen in ihren Häusern sind."
„Bis dahin sind sie vermutlich tot", murmelte Amita düster. Manta hatte sie entweder überhört oder ignoriert.
„Hier rumstehen bringt uns auch nicht weiter. Macht euch an die Arbeit. Wenn es dunkel wird und die beiden noch immer nicht zurück sind, gehen wir sie suchen", versprach er. „Keiner geht nach Keillun, solange die Sonne am Himmel steht."
Lilita und Wota brachten die Beute zum Lager, damit sie verarbeitet und das Fleisch zum trocknen aufgehängt werden konnte. Katta und Rinta folgten ihnen hinein, um die Wasserfässer zu holen, und Manta verschwand in der Höhle, die er mit Lilita teilte. Pariwanta blieb mit Amita und Sapata zurück.
„Wir sollten nach Kaillun gehen", sagte Amita, sobald Manta außer Hörweite war. Sapata sah sie erschrocken an.
„Geht's noch? Wir dürfen dort nicht hin! Aus gutem Grund."
„Und was ist mit Irmita und Palta? Die beiden werden vielleicht gerade zu Tode gequält!", protestierte Amita.
„Und was hast Du vor? Sie suchen und retten? Es ist mitten am Tag, im Dorf wimmelt es von Menschen. Wir bringen uns eher selbst in Gefahr."
„Und Manta hat gesagt, wir warten, bis es dunkel wird", fügte Pariwanta hinzu.
„Sie sind tot, bis es dunkel ist! Wir haben keine Zeit zum Warten. Und wir können es uns ganz sicher nicht leisten, noch zwei Kobolde zu verlieren. Wir sind jetzt schon so wenige."
Damit hatte Amita nicht ganz unrecht. In den letzten Jahren hatten sie viele verloren. Hunger, Krankheit und die Menschen waren die Gründe. Keiner der jetzigen Generation hatte noch Großeltern. Deshalb war Manta auch Ältester, obwohl er noch recht jung war. Es gab einfach keine älteren Kobolde mehr im Stamm. Auch an Nachkommen mangelte es inzwischen. Die jüngste Generation bestand aus Amita, Sapata, Rinta, Katta, Wota und Pariwanta. Wobei Wota der Älteste war und Rinta der Jüngste. Amitas Eltern erwarteten zur Zeit noch ein Junges, doch wer konnte sagen, dass es überleben würde? Sie bekamen jetzt schon kaum genug Nahrung zusammen.
Und dann waren da noch Manta und Lilita. Die beiden waren schon sehr lange Partner, doch sie hatten keine Jungen. Woran das lag, wusste niemand. Oder es wurde einfach nicht darüber gesprochen.
Palta und Irmita waren Geschwister, und die einzigen Kobolde ihrer Generation, die keine Partner hatten. Sie waren beide begabte Jäger und Irmita war eine geschickte Diebin. Es wäre auf keinen Fall von Vorteil, die beiden zu verlieren.
„Glaubst Du wirklich, dass sie geschnappt wurden?", fragte Pariwata an Amita gewandt.
„Ich ... bin mir nicht sicher. Das ist ihnen noch nie passiert, besonders nicht Irmita. Aber wieso sollten sie sonst noch nicht zurück sein?"
„Vielleicht warten sie nur im Dorf auf eine Gelegenheit? Heute ist Markt in Keillun, es wird sehr viel los sein", gab Pariwanta zu bedenken. Die beiden sahen sie stirnrunzelnd an, und sie wusste, dass sie zu viel gesagt hatte.
„Woher weißt Du, dass Markt ist?", fragte Sapata langsam. Pariwata zögerte, doch sie wusste, dass sie sich jetzt bestimmt nicht mehr glaubwürdig rausreden konnte.
„Ich war heute Morgen auf dem Glockenturm", gab sie schließlich zu.
„Was?!", riefen Amita und Sapata im Gleichklang.
„Nicht so laut!", zischte Pariwanta. „Und schaut nicht so erschrocken. Ich bin ständig dort oben."
„Hat Manta dir das nicht ausdrücklich verboten?", erinnerte Sapata sie.
„Er hat auch verboten, dass wir nach Keillun gehen und Palta und Irmita suchen", konterte Pariwanta. Amita verdrehte die Augen.
„Aber nicht, weil wir Menschen anstarren wollen! Vielleicht brauchen sie Hilfe. Und ...", sie sah Pariwanta nachdenklich an. „wenn Du so oft auf dem Glockenturm bist, weißt Du bestimmt, wie wir unbemerkt nach Keillun kommen, oder?" Pariwanta schüttelte den Kopf.
„Nichts da. Ich zeige euch sicher nicht, wie ihr euch ins Dorf schleichen könnt! Ich gehe da immer vor Sonnenaufgang hin, dann sind fast keine Menschen unterwegs. Es ist helllichter Tag! Das ist viel zu gefährlich!"
„Sie hat Recht, Amita", seufzte Sapata. „Wir können uns nicht auch noch in Gefahr bringen. Sonst fehlen nicht nur zwei, sondern fünf Kobolde im Stamm."
„Ihr wollt also hier bleiben und nichts tun?"
„Was haben wir für eine Wahl? Vielleicht geht es ihnen gut und sie kommen von alleine zurück. Und wir bringen uns unnötig in Gefahr!"
„Und was wenn nicht?" Pariwanta und Sapata schwiegen für ein paar Augenblicke.
„Mir egal, was ihr macht. Ich gehe sie suchen", fuhr Amita fort, ohne auf eine Antwort zu warten. Sie wandte sich ab und begann, in Richtung Keillun zu gehen. Sapata und Pariwanta sahen sich an. Sie konnte den Unglauben und die Sorge sehen, die sich in seinen Bernsteinaugen vermischten.
„Wir können sie doch nicht alleine gehen lassen!"
„Das ist vermutlich sicherer, als wenn wir alle gehen", murmelte Pariwanta.
„Aber sie war noch nie alleine in Keillun! Und wenn ihr etwas passiert, reißt mir Iskita den Kopf ab!" Iskita war die Schwester von Sapatas Mutter, und selbst Mutter von Amita. Da Sapata etwas älter als Amita war, hatte sie ihn natürlich für ihre Tocher verantwortlich gemacht. Pariwanta war kurz davor ihm zu sagen, dass das sein Problem war. Nicht ihres. Als sie jedoch den Kopf in die Richtung wandte, in die Amita gegangen war und bemerkte, dass die Koboldin bereits außer Sicht war, wurde sie selbst von Sorge übermannt. Amita und Pariwanta waren keine engen Freunde, aber sie gehörten trotzdem zum selben Stamm.
„Das ist eine verdammt dumme Idee", knurrte sie und warf die Arme in die Luft. Sapata nickte. Sie wandten sich von den Höhlen ab und beeilten sich, Amita zu folgen.

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