Kapitel 4

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Pariwanta saß völlig regungslos hinter dem Schornstein des Hauses, auf dem sie sich platziert hatte. Die Anspannung erlaubte es ihr kaum zu atmen. Amita und Sapata hatten sich auf anderen Häusern platziert. Wenn der Plan funktionierte, könnten sie die Menschen lange genug vertreiben, um Palta und Irmita zu befreien. Pariwanta kroch zum Rand des Daches und lugte über die Kante nach unten in die Straße, die zum Marktplatz führte. Sie war vollkommen leer und alle Fensterläden schienen geschlossen.
Jetzt oder nie, dachte die junge Koboldin, atmete tief durch, um die Nervosität abzuschütteln, und ließ sich auf einen Fenstersims unter sich fallen. Ein letztes Mal versicherte sie sich, dass sie alleine war, dann holte sie tief Luft und begann aus Leibeskräften zu schreien. Das Echo hallte in der Gasse um ein vielfaches wieder.
Augenblicklich verstummte das Gemurmel vom Dorfplatz und es dauerte nur einen Moment, bis Sapata und Amita in das Gebrüll mit einfielen. Einige Sekunden lang schien nichts zu passieren, dann wurden die Stimmen auf dem Platz wieder laut. Die Menschen riefen durcheinander, das trampeln ihrer Füße auf dem Pflasterstein ließ darauf schließen, dass sie flohen. Pariwanta merkte, wie ihre Lungen zu schmerzen begannen. Doch der Platz vor der Kirche war noch nicht still geworden, also heulte sie weiter. Und dann wurde es endlich ruhig. Nurnoch der Wind pfiff durch die Straßen. Die Menschen waren weg.
Pariwanta ließ sich von dem Fenstersims auf die Straße fallen und huschte zu deren Ende, wo der Dorfplatz lag. Sie schaute hinter der letzten Hauswand hervor. Tatsächlich war der Platz vollkommen leer - bis auf Palta und Irmita, die noch immer an die Pfähle gebunden waren. Im Augenwinkel sah Pariwanta, wie Sapata und Amita ebenfalls auf den Dorfplatz traten. Sie nickte den beiden zu und überquerte dann den Platz zu der Holzbühne vor der Kirche, kletterte hinauf und nahm Palta, der am nächsten war, den Knebel aus dem Mund.
„Seid ihr verrückt?", zischte der Kobold sofort. Seine Augen funkelten aufgebracht.
„Wie wäre es mit einem Dankeschön?", knurrte Amita zurück, die währenddessen Irmita den Knebel abgenommen hatte.
„Ihr hättet nicht her kommen dürfen! Und ich bin sicher, Manta weiß auch nicht, dass ihr hier seid", fauchte Palta.
„Wäre es dir lieber, wenn wir euch hier lassen?", keifte Amita zurück.
„Jetzt seid doch still! Wir sollten hier lieber schleunigst verschwinden, sonst kommen die Menschen wieder!" Irmitas Augen blitzten wütend, während sie ihren Bruder und Amita zum Schweigen brachte. Pariwanta löste mit ihrem Messer Paltas Fesseln. Sapata, der Wache hielt, trat nervös von einem Fuß auf den nächsten.
„Ich höre etwas", flüsterte er. „Sie kommen zurück!" Pariwanta spitzte die Ohren und bemerkte die schweren Schritte, die sich durch eine der Gassen näherten.
„Das sind sicher Wachen. Los, weg hier!" Amita hatte gerade die Fessel um Irmitas Handgelenke durchtrennt. Nicht eine Sekunde zu spät, denn im nächsten Moment trat eine Wache auf den Platz, erblickte die Kobolde auf der Bühne und begann irgendetwas zu brüllen.
Diese sprangen zurück auf den Boden und flitzten zurück in den Schutz der Straßen, wo sie nicht so ein leichtes Ziel waren. Pariwanta navigierte ohne zu zögern durch die verwinkelten Gassen des Dorfes und führte die anderen Kobolde dorthin zurück, wo sie mit Sapata und Amita zuvor hereingeschlichen war. Sie konnten nicht über die Dächer zurück, weshalb sie einen Umweg nehmen mussten, doch kam schließlich der Stall am Stadtrand in Sicht. Und die Tür stand einen Spalt weit auf, gerade genug für einen Katzenkobold, um hindurch zu schlüpfen. Sie huschten in Windeseile durch den Stall, hinauf auf den Heuboden und durch das Fenste nach draußen, durch das sie zuvor hinein gekommen waren. Nacheinander kletterten sie wieder nach unten, überquerten die Straße, sprangen über die kleine Mauer und verließen Keillun durch die enge Gasse. Pariwanta drehte sich um, alle waren da. Und keine Wache schien ihnen mehr zu folgen. Sie atmete erleichtert aus, und spürte plötzlich den Schmerz in ihrer Lunge und ihren Gliedern. So einen Spurt hatte sie schon lange nicht mehr hingelegt. Aber sie hatten es geschafft.
„Soetwas machen wir nie wieder", keuchte Sapata.
„Hoffentlich ist es nie wieder nötig", murmelte Pariwanta.


Als sie zurück zu den Hügeln kamen, ging die Sonne bereits unter und tauchte die grünen Wiesen in einen feuerroten Schimmer. Schon von Weitem konnten sie Manta sehen, der vor den Höhlen auf und ab lief. Als sie näher kamen, hielt er an und wartete, bis sie bei ihm waren. Seine tiefblauen Augen waren trüb vor Sorge. Pariwanta hätte erwartet, dass er wütend auf sie sein würde. Stattdessen nahm der graue Kobold sie in den Arm.
„Ich dachte schon, jetzt seid ihr alle weg", murmelte er. Pariwanta legte die Stirn gegen seine Brust.
„Tut uns leid. Aber sie hatten Irmita und Palta ..."
„Wenn die drei nicht gekommen wären, um uns zu suchen, hätten uns die Menschen sicher schon das Fell abgezogen", brummte Palta und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Trotzdem habt ihr euch alle in Gefahr gebracht. Was wäre gewesen, wenn sie euch auch erwischt hätten?" Manta legte Pariwanta die Hände auf die Schultern und brachte etwas Abstand zwischen sie beide, um sie anzusehen.
„Dein Vater war mein Bruder. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn ich zuließe, dass dir etwas passiert. Das gilt allerdings auch für euch." Er blickte Sapata und Amita ernst an.
„Eure Eltern sind krank vor Sorge. Iskita wollte schon los, um euch zu suchen, hätte Ata sie nicht aufgehalten." Amite zuckte bei der Erwähnung der Namen ihrer Eltern merklich zusammen. Vermutlich war ihr klar, dass sie eine ziemliche Standpauke kassieren würde.
„Und Du, Sapata, hättest ebenfalls nicht so handeln dürfen. Deine Mutter hat schon ihren Partner verloren." Sapata blickte betreten zu Boden. Osata, Naskitas Partner und Sapatas Vater, war im letzten Winter verstorben.
„Jetzt sei nicht so hart zu ihnen. Es ist doch alles gut gegangen", seufzte Irmita. „Daran zu denken, was hätte schief gehen können, hat auch keinen Sinn. Sei einfach froh, dass wir alle wieder hier sind." Manta sackte sichtlich zusammen, doch dann nickte er.
„Du hast recht ... trotzdem wäre ich sehr dankbar, wenn ihr uns soetwas nicht noch einmal antuen würdet."
Pariwanta war vollkommen geschafft, weshalb sie erleichtert war, als Manta sie endlich gehen ließ. Sie machte sich auf den Weg zu ihrer Höhle. Als sie den kleinen Raum erreichte, war jedoch bereits jemand dort.
„Pariwanta!" Rinta stürzte sich vollkommen aufgelöst auf sie und warf seine Arme um ihren Hals. Er vergrub sein Gesicht in ihrem Nacken und brachte vor lauter Schniefen und Schluchtzen kein Wort mehr heraus. Pariwanta umarmte ihn und legte ihr Kinn auf seinen Kopf, schloss die Augen und atmete seinen vertrauten Geruch ein. Die plötzliche Erkenntnis, dass sie Rinta vielleicht nie wieder gesehen hätte, dass sie ihn vielleicht alleine gelassen hätte, traf sie wie ein Schlaf in den Magen. Sie zog den jüngeren Kobold fester an sich und hatte nun selbst mit den Tränen zu kämpfen.
„Alles okay. Ich bin ja wieder da", flüsterte sie. Sie war heute wirklich egoistisch gewesen ... so wie Pariwanta hatte auch Rinta keine Eltern mehr. Sie waren zwar nicht verwandt, doch sie hatte immer auf ihn aufgepasst. Er war wie ein Bruder für sie.
Es dauerte eine Weile, bis Rinta aufhören konnte zu weinen. Schließlich löste er sich von Pariwanta und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. Sein Wangenfell war komplett durchnässt.
„Tu mir das nie wieder an! Ich dachte, Du kommst nie mehr wieder!" Pariwanta legte ihm die Hand auf den Kopf.
„Deinetwegen würde ich immer wieder kommen. Was würdest Du denn ohne mich machen?" Sie erwartete, dass Rinta sich wehrte. Dass er sagen würde, er käme auch alleine zurecht. Doch zu Pariwantas Überraschung sagte er nichts dergleichen.
„Ich will nicht, dass Du mich auch alleine lässt. Versprich mir, dass Du das nicht machst." Seine großen, blauen Augen sahen zu ihr auf. Pariwanta wurde das Herz schwer.
„Versprochen", flüsterte sie.

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⏰ Last updated: Oct 27, 2019 ⏰

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