Kapitel 1

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'Mama, wie weit ist es noch?', Lucys kleine Finger schlossen sie um die kalte Hand ihrer Mutter. 'Nicht mehr weit meine Kleine'. Susans Stimme war gebrochen. Jegliche Hoffnung war daraus verschwunden. Das Feuer in ihren Augen, welches beim Aufbruch zum Sicherheitsbunker noch geglommen hatte, war entgültig erloschen. Verzweifelt klammerte sich ihre freie Hand an ihr Baby, welches in ein Tuch gewickelt an ihrer Brust hing. Seit 12 Tagen waren sie jetzt unterwegs und während dieser Zeit hatte sie so gut wie nichts gegessen, das meiste hatte sie ihren Kindern überlassen. Wenn sie diesen verdammten Bunker nicht bald finden würden, würden sie entweder an Hunger oder an einem Infizierten sterben. Sie konnten nur von Glück reden, dass sie bisher keinem begegnet waren. Und falls sie einfach verhungern sollte, dann wären ihre Kinder auf sich alleine gestellt. Dieser Gedanke lockte neue Kraft in ihre Muskeln, das durfte nicht geschehen. Entschlossen lief sie etwas schneller, und zog ihre kleine Tochter hinter sich her. 'Mami, ich kann nicht mehr', 'Ich weiß, Süße, ich weiß. Bald sind wir da', dieses Versprechen gab sie schon seit einer Woche.

Vor ihnen lag nichts als Einöde. Man konnte gerade noch eine Straße unter ihren Füßen erkennen. Hier und da bekam man unter dem dunkelgrünen Moos ein Auto zu sehen. Einst hatte die Straße in eine große Stadt geführt, das wusste Susan noch von damals. Denn all dies hatte erst begonnen, als sie gerade mit Lucy im siebten Monat schwanger gewesen war. Da war sie 22. Hätte sie gewusste, was auf sie zukam, hätte sie sich niemals Kinder gewünscht. Hätte sie gewusst, was für ein feiges Arschloch ihr Ehemann war, hätte sie sich niemals Kinder von ihm gewünscht. Sie hatte keine Ahnung wo er war oder ob er überhaupt noch lebte. Alles was sie wusste war, dass er kurz vor Lucys Geburt das Weite gesucht hatte und sie mitten in der Apokalypse hatte sitzen lassen.

Susan kniff leicht die Augen zusammen, um eine bessere Sicht auf das zu bekommen, was jetzt vor ihnen lag. Durch den dunklen Dunst der über ihnen herzog konnte man die Silhouette einiger großer Gebäude erkennen, und ihr Herz machte einen Freudensprung. Das war die Stadt die sie suchten. Dort würden sie hoffentlich den Bunker und somit Hilfe finden.

Außer dem kalten Wind, der in ihren Gesichtern brannte und den trockenen Blättern, die unter ihren Füßen knirschten, war nichts zu hören. Doch plötzlich war da doch ein anderes Geräusch. Ein Knattern, weit in der Ferne. Susan hielt unwillkürlich inne. Das war das Geräusch eines näher kommenden Fahrzeugs. Entweder handelte es sich um eine Gruppe Überlebender oder es war ein Militärfahrzeug. Beides würde wahrscheinlich ihr Ende bedeuten, normalerweise wurden Menschen die gefunden wurden einfach erschossen. Schlicht und einfach wegen der Lebensmittelknappheit. Oder um zu verhindern, dass sich die Krankheit noch weiter ausbreiten konnte. Panisch suchten Susans Augen nach einem geeigneten Versteck. Nicht weit von ihnen lag ein kleiner dunkler Wald. Widerwillig lief sie los. Dunkelheit bedeutete meist Infizierte. 'Mama was ist los, wieso rennen wir denn?', Lucy klammerte sich an ihre Mutter und stolperte ihr hinterher. Susan antwortete nicht. Verschwitzt und voller Angst kamen sie am Waldrand an. 'Susan beugte sich runter zu ihrer Tochter. 'Wir müssen jetzt ganz leise sein, okay?' Lucy nickte nur verwirrt und gab einen Mucks von sich. Sie schlichen vorsichtig zwischen den Bäumen hindurch. Plötzlich drang von hinten ein Lichtstrahl zu ihnen durch, und ein Motor wurde abgestellt. Hektisch packte Susan ihre Tochter unter den Armen und hob sie auf einen der Bäume. Trotz der Kälte war ihr jetzt glühend heiß. Sie nahm ihr Baby aus der Trage und reichte es hoch zu Lucy. 'Versuch ein bisschen höher zu klettern, dann kann ich zu euch hoch kommen', 'Aber Mama, ich kann mit Edmund auf dem Arm nicht richtig klettern!', 'Bitte versuch es Schatz, Mami muss sich auch in Sicherheit bringen', sie versuchte, die Angst in ihrer Stimme zu verbergen. Das Licht wurde heller. Sie hörte Stimmen. Männer, die sich energisch unterhielten. Verzweifelt klammerte Susan sich an den Ast an dem ihre Tochter hing und versuchte, sich hochzuziehen. Doch sie hatte keine Kraft mehr. Ihre dürren Arme konnten ihr Gewicht nicht halten. 'Da ist sie!', Ihre Augen sahen panisch in die ihrer Tochter, da gellte ein Schuss durch die Dunkelheit. Kurz darauf ein zweiter. Susan wurde von einer Welle der Gefühlen überflutet. Dann fühlte sie den Schmerz. Wie in Zeitlupe kippte sie nach hinten um, die Augen starr auf ihre Kinder gerichtet. Dadurch, dass ihre blassen Gesichter mit Dreck beschmiert waren, genauso wie ihre Kleidung, würden sie auf dem Baum nicht entdeckt werden. Das war ihr letzter Gedanke. Dann knallte sie mit dem Kopf auf den Boden, und eine unendliche Dunkelheit umhüllte sie.



***


Lucy unterdrückte einen Aufschrei. Sie begann leise zu schluchzen und wandte den Blick ab. Sie schaute auf ihren Bruder, der friedlich in ihren Armen schlief. Sie hörte, wie die Männer näher kamen. Eine unglaubliche Wut überkam sie. Selbst mit ihren zarten acht Jahren verstand sie den Tod schon sehr gut. Seit ihrer Geburt war er ein ständiger Begleiter gewesen. 'Meintest du nicht, dass die noch Kinder bei sich hatte?', 'Kann auch sein das ich mich geirrt habe', 'Naja, ist ja auch egal. Selbst wenn, alleine verrecken die sowieso'. Beide lachten. Angewidert und mit Tränen in den Augen schaute sie wieder zu den beiden Männern. Einer von ihnen beugte sich zu ihrer Mutter runter und durchwühlte ihre Jackentaschen. Als er nichts brauchbares fand, bedeutete er seinem Freund wieder zurückzugehen. Kurz darauf hörte Lucy einen Automotor anspringen, und weg waren sie.

Vorsichtig glitt sie, ihren immer noch schlafenden Bruder fest an sich gedrückt, von dem knorrigen Ast herunter. Sie sackte zu ihrer Mutter auf die Erde und ließ ihren Tränen freien Lauf. 'Mama, bitte nicht', sie rüttelte an ihren Schultern, dann schaute sie in ihr Gesicht. Die Augen starrten ins Leere, der Mund war ein wenig geöffnet. Ein grässlicher Anblick. Unter ihren Augen klafften tiefe Ringe. Sie sah immernoch so erschöpft aus. Vorsichtig fuhr Lucy mit den Fingern über das verzerrte Gesicht ihrer Mutter. Sie schloss sanft mit den Fingerspitzen ihre Augen, und schon wirkte sie etwas friedlicher. Vorsichtig legte sie Edmund in den Arm ihrer Mutter und legte sich dann daneben. Sie wollte die letzte Wärme ihrer Mutter spüren, so lange sie nur konnte. Schluchzend klammerte sie sich an sie. Verzweiflung durchströmte ihren Körper. Wie sollte sie ohne ihre Mutter und mit einem Baby alleine überleben?

Sie lag nur da, über mehrere Stunden hinweg. Weinte und summte eine kleine Melodie, die ihre Mutter immer für sie zum Einschlafen gesungen hatte. Bis irgendwann die letzte Wärme aus Susans Körper drang, und eine leere kalte Hülle zurückließ.

Das letzte Erbe der MenschheitWhere stories live. Discover now