Kapitel 2

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Von einem lauten Geschrei erwachte Lucy. Es war Edmund, der wahrscheinlich Hunger hatte. Mittlerweile musste es hellichter Tag sein, die Bäume warfen jedoch so viele Schatten, dass es wirkte als wäre es später Abend. Sie blickte sich um. Als ihr Blick wieder auf ihre tote Mutter fiel, traten ihr unwillkürlich wieder die Tränen in die Augen. Sie drückte Edmund fest an sich. 'Shhh, es wird alles wieder gut', ihr wurde bewusst das sie weiter musste. Es brach ihr das Herz, ihre Mutter einfach so liegen zu lassen. Aber etwas anderes würde ihr wohl oder übel nicht übrig bleiben. Sie beschloss, sie wenigstens mit ein paar Gräsern und Blumen zu bedecken um ihr die letzte Ehre zu erweisen. Sie wickelte sich das Tuch um, das zuvor ihre Mutter getragen hatte und legte Edmund hinein, dann lief sie los. Etwas abseits fand sie ein paar hübsche Buschwindröschen. Sie pflückte davon so viele, das sie beide Arme benutzen musste, um alles zu ihrer Mutter zu schaffen.

Sie sackte auf die Knie. Eine neue Woge der Trauer überkam sie, und sie schluchzte laut, während sie ihrer Mutter die Jacke auszog. Sie würde sich nicht mehr brauchen und sie hätte gewollt, das Lucy sie nimmt. Alles was sich in ihren Taschen befand war ein kleines Messer und ein Feuerzeug. Dann begann sie, den dürren, kalten Körper vor ihr mit den Blumen zu bestücken. Dabei verlor sie viele Tränen. Sie hatte in ihren letzten Tagen weder viel geschlafen noch gegessen. Und zuletzt war sie für ihre Kinder gestorben. Sie legte gerade eine Blume auf die hässliche Austrittswunde, da schreckte sie alamiert auf. Hinter ihr hatte sich etwas bewegt und sie vernahm ein leises, gequältes Stöhnen. Es wurde langsam lauter. Lucy erhob sich vorsichtig und drückte Edmund schützend an sich. Ihr Blick wanderte zwischen den Bäumen umher. Da sah sie es. Eine Gestalt, scheinbar mal ein Mensch gewesen, jetzt aber scheußlich entstellt. Die einzig vorhandene Haut hing in Fetzen hinunter. Der Kiefer des Ungetüms war herausgebrochen und eine blutige Zunge baumelte aus dem Rachen heraus. Einige Stoffreste hingen ihm über die Schulter. Langsam schlurfte es an Lucy und Edmund vorbei. Lucy wagte es nicht sich zu rühren oder auch nur zu atmen. Es schien sie noch nicht bemerkt zu haben. Da begann Edmund wieder zu weinen. Lucy sah nur noch, wie das Ungeheur den Kopf ruckartig herumriss, da griff sie nach der Jacke ihrer Mutter und sprintete los. Sie hörte die wütenden, schweren Schritte hinter sich, und als sie sich kurz umwandte, sah sie das Gewirr aus verottetem Fleisch, Haut und Knochen hinter sich her hetzen. Immer wieder erstaunte es sie, wie schnell die Viecher doch waren. Sie rannte, bis ihre Beine vor Schmerz brannten. Sie hatte den Rand des Waldes schon ein gutes Stück hinter sich gelassen, da erblickte sie wie am Vortag die Stadt in einiger Entfernung. Sie bezweifelte, dass sie es bis dort hin schaffen könnte. Trotzdem rannte sie weiter. Sie musste es versuchen, für ihren Bruder. Da strauchelte sie. Ihre kleinen Füße hatten sich in einer Ranke verheddert. Sie stürzte unsanft und mit dem Kinn voran auf den Teer der Straße. Edmund hatte sie so gut es ging vor dem Aufprall schützen können, indem sie ihre Arme blitzschnell um ihn geschlungen hatte. Er weinte jetzt lauter dennje. Als sie sich umdrehte, sah sie ihr Ende auf sich zu kommen. Hastig kramte sie in der Jackentasche ihrer Mutter umher bis sie das Messer daraus hervorzog und aufklappte. Ihre letzte Chance war es, dem Infizierten das Gehirn zu zerstören. Das wusste sie, weil sie bis vor kurzem noch in einer Gruppe gewesen war, in der man es ihr beigebracht hatte, worauf man achten musste. Sie hatte dort Übungen gemacht, indenen ihr gezeigt wurde, wo sie im Ernstfall hinzustechen hatte. Nur hatte man bei den Übungen hauptsächlich auf Strohbälle eingestochen, ein lebendes Objekt hatte Lucy noch nie getötet. Panisch versuchte sie, ihren Fuß aus der Schlinge zu befreien, da war er auch schon über ihr. Beißen konnte er sie nicht mehr, jedoch konnten seine messerscharfen Nägel sie immernoch zerfleischen. Und sobald etwas Blut von ihm in ihren Mund oder in ihre Blutlaufbahn gelang, war sie verloren. Also presste sie die Lippen fest zusammen, als er über sie herfiel. Als er seinen Kopf nach unten sacken lies, stach sie voller Angst und mit zusammengekniffenen Augen nach oben. Der Körper sackte zusammen und sank auf Lucy hinunter. Als sie die Augen öffnete, steckte ihr Messer direkt zwischen seinen verfaulten Augen bis zum Anschlag in seinem Kopf. Mit letzter Kraft hievte sie ihn von sich runter und blieb erschöpft liegen. Edmund weinte immer noch. Mit zittrigen Knien erhob sie sich. Als sie zurück auf den verkrümmten und übel riechenden Kadaver schaute, wurde ihr schlecht. Angewidert packte sie das Messer am Griff und zog so feste sie konnte daran. Es rührte sich nicht. Widerwillig setzte sie einen Fuß auf der Schulter des Infizierten ab und zog erneut. Sie hörte ein widerliches schmatzendes Geräusch, als sie das Messer endlich mit einem Ruck aus dem Kopf zog. Es treifte von schlammartigen Blut. Gesehen hatte sie solche Szenarien schon zu genüge, jedoch war sie selbst nie Teil des Szenarios gewesen. Außerdem war immer ihre Mutter zur Stelle gewesen, um sie möglichst wenig von all dem sehen zu lassen. Beim Gedanken an ihre Mutter kam wieder ein Heulkrampf in ihr auf, aber sie schluckte ihn hinunter. Sie musste jetzt stark sein. Sie reckte den Kopf und schaute etwas stolz zurück auf ihren ersten Toten, da stapfte sie weiter auf die Stadt zu.

Sie hatte schon einige Meter hinter sich gebracht, da spürte sie das vertraute Gefühl des Hungers in ihr aufkommen. Glücklicherweise hatte sie Edmund mitlerweile ruhig gestellt, indem sie ihn am Saum ihres T-Shirt nuckeln ließ. Immer wieder schaute sie liebevoll zu ihm hinunter, und er schaute mit seinen dunklen Knopfaugen zurück. 'Er wird mal ein hübscher junger Mann', hatte ihre Mutter immer gesagt. Er hatte ihre kastanienbraunen Locken und die dunklen Augen geerbt. Lucy hatte wenig von ihrer Mutter. Sie war ein 'Papa Kind'. Auch ein Spruch von ihrer Mutter. Lucys Haut war äußerst blass und ihre Haare glatt und feuerrot. Sie hasste es. Es machte sie auffällig. Sie hasste es auch, weil es ihre Mutter an ihren Vater erinnerte. Sie hatte ihn nie kennegelernt, sie hatte immer nur mitbekommen, dass ihre Mutter Nachts wegen ihm weinte. Deshalb hasste sie ihn, und sie hasste es, wie er aussehen zu müssen.

Die Sonne stand bereits hoch, als Lucy verschwitzt und mit schmerzenden Gelenken endlich an den ersten Häusern ankam. Zum größten Teil waren sie überwuchert mit grünen Ranken und einige der hohen Gebäude waren eingestürzt. Hier und da lag ein Toter auf der Straße. Einige davon waren zum Großteil verwest, andere sahen so aus, als hätten sie vor einigen Tagen noch gelebt. Jetzt musste Lucy vorsichtig sein. Großstädte waren gefährlich, man wusste nie wer sich hier alles herumtrieb. Sie lief dicht an den Häusern entlang und ihre Augen wanderte bedacht über die Trümmer. Wo sollte sie anfangen nach dem Bunker zu suchen? Und sollte sie ihn finden, würde sie und ihr Bruder überhaupt aufgenommen werden? Plötzlich roch Lucy etwas, es roch nach verkohltem Fleisch. Einige Schritte weiter sah sie auch schon den Auslöser dieses Gestankes. Sie zog sich das T-Shirt über die Nase und lief vorsichtig an einem noch glühenden Haufen verbrannter Körper vorbei. Das hieß, dass hier vor kurzem noch Menschen gewesen sein mussten. 'Na Kleine, suchst du etwas?' Lucy japste nach Luft und packte schon das Messer in ihrer Tasche um im Notfall zuzustechen. Panisch blickte sie sich um, konnte jedoch niemanden sehen. Sie nahm all ihren Mut zusammen und rief: 'Wo bist du?', ihre Stimme war höher als sonst. Sie ärgerte sich darüber, sie hatte mutig klingen wollen, nicht hysterisch. Da sah sie jemanden aus dem Eingang eines dunklen Gebäudes herauskommen. Es war ein älterer Mann, mit weißem Stoppelbart und Hut auf dem Kopf. 'Keine Angst, ich tu dir nichts. Hast du dich verlaufen? Bist du alleine?' Lucy antwortete nicht. Ihre Mutter hatte ihr immer gesagt, sie solle sich von Fremden fernhalten und auf keinen Fall etwas über sich erzählen. Aber vielleicht würde er ihr ja beim Suchen helfen können. 'Heilige Scheiße, du hast ja ein Baby dabei!' Als der Mann näher kam, wich Lucy ängstlich einige Schritte zurück. 'Bleib weg von mir, ich kenn dich nicht!' Der Mann lächelte beschwichtigend. 'Du hast jedes Recht mir zu misstrauen. Hast du vielleicht Hunger?', er griff in seine Jackentasche und zog einer versiegelte Dose daraus hervor. 'Ich heiße Fred, du kannst mich aber gerne Freddie nennen'. Er warf ihr die Dose zu. Lucy fing sie auf und schaute dann erstaunt und mit großen Augen zu Fred. 'Danke', murmelte sie. Dann hörten sie einen Knall. Hastig wandten beide den Kopf in die Richtung, aus der es gekommen war. Eine Herde Infizierter kam direkt auf sie zu. 'Verfluchter Mist, nicht schon wieder', Fred streckte Lucy seine große Hand aus. 'Komm schon Kleine, wir müssen hier weg!', kurz zögerte Lucy, dann ergriff sie entschlossen nach ihr und sie stürmten zusammen los.


Das letzte Erbe der Menschheitحيث تعيش القصص. اكتشف الآن