20. Kapitel - Vergessen

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Als ich am nächsten Morgen aufwachte, genoss ich es, nicht von meinem Wecker aufgeweckt zu werden, sondern im behaglich warmen Bett liegenbleiben zu können. Der Samstagmorgen begann also genau so, wie es sein sollte. Meine noch trägen Gedanken hingen dem Buch nach, das ich vor den Einschlafen gelesen hatte. Mit einem Seufzer rang ich mich dazu durch, aufzustehen.
Es würde ein guter Tag werden. Ein normaler. Ohne Schatten.

Noch ein wenig verschlafen tappte in die Küche, in der meine Familie schon am gedeckten Frühstückstisch saß. Ich gesellte mich dazu und begann, mir ein Brötchen aufzuschneiden.
"Schau mal, Feli, da ist Polizei," lenkte mein kleiner Bruder meine Aufmerksamkeit auf sich und stach mit seinem Zeigefinger in die Zeitung meines Vaters. "Was machen die da? Ich will das auch machen!"
"Erzähl du es mir," erwiderte ich mit einem Schmunzeln. "Du kannst doch lesen."
"Das geht aber viel zu langsam. Und die Buchstaben sind zu klein," quengelte er.
Mein Vater seufzte. "Die Welt wird auch immer verrückter. Ein Amoklauf in einer Grundschule konnte gerade noch durch das Eingreifen von Passanten verhindert werden! Was geht eigentlich in den Köpfen solcher Menschen vor?" Kopfschüttelnd schob er mir die Zeitung über den Tisch.

Versuchter Amoklauf in der Grundschule - Täter auf freiem Fuß
In Werpen hat eine ganz in schwarz vermummte Person versucht, sich zu einer Grundschule Zugang zu verschaffen. Aufmerksam gewordene Passanten konnten den mutmaßlichen Täter verjagen. Trotz einer aufwendigen Polizeiaktion fehlt von dem Geflohenen jede Spur.
Ein längerer Artikel wurde auf Seite 3 versprochen. Mit einem trockenen Mund legte ich die Zeitung beiseite und griff zur Teetasse.
Ich hatte mir vorgenommen, dass dieses Wochenende für mich und meine Familie sorgenfrei und unbeschwert sein sollte. Dazu gehörte, keinen Gedanken an die Akademie, aber auch keinen an schlechte Nachrichten zu verschwenden.

"Genau, da ist Polizei. Die passen auf alle Leute auf. Was hast du heute vor?", lenkte ich zum nächsten Thema über.
"Wir gehen alle ins Kindertheater. Mama hat es versprochen! Nur Papa kann nicht mit, weil er Oma besucht."
"Das ist ja toll," erwiederte ich und ein breites Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. Das war genau das, was ich jetzt brauchte. "Nimmst du mich mit?"
"Es wäre mir lieber, wenn du mich zu Oma begleiten würdest. Sie freut sich doch immer so, wenn sie einen ihrer Enkel sieht," warf Papa ein.
Nun ja. Meine Oma väterlicherseits erkannte mich aufgrund ihrer Demenz nicht einmal als ihre Enkelin, aber ich willigte ein, auch, wenn ich eigentlich lieber meine Geschwister begleitet hätte. Morgen war auch noch ein freier Tag.

"Oder hast du Hausaufgaben auf, die du noch machen musst?", fragte meine Mutter. Mich ärgerte es, wie betont freudig und unbeschwert ihre Stimme klang. Warum musste sie so angestrengt tun, als wenn nichts passiert wäre, ich nie die Schule gewechselt hätte und mein größtes Problem die nächste Matheklausur wäre?
"Nee, hab ich nicht," erwiederte ich etwas unfreundlicher, als es nötig war. Dann fiel mir auf, dass ich eigentlich genau dasselbe tat. Die Tatsachen ignorieren und so tun, als wenn das ein gewöhnlicher Samstagmorgen war. Beschämt starrte ich auf meinen Teller und pickte mechanisch einige Krümel von meinem Brötchen auf, um sie mir in den Mund zu stecken.
Ich wollte vergessen. Doch die Erinnerung holte mich immer wieder ein.

Wenig später trat ich aus unserer Haustür in die frische Morgenluft. Ich atmete tief ein und genoss die Kühle auf meinen Wangen. Dann schloss ich den Reißverschluss meiner Jacke und folgte meinem Vater in die Garage.
Auf der zwanzigminütigen Fahrt wechselten wir kaum ein Wort. Ich hatte keine Lust, über die Akademie zu reden und war wieder einmal dankbar, dass er mich nicht dazu nötigte.
Dafür erkundigte ich mich, wie es Oma das letzte Mal gegangen war, als er sie besucht hatte. Papa seufzte. "Den Umständen entsprechend," war seine Antwort. Ich wusste, dass es ihn schmerzte, dass Oma aufgrund ihrer Demenz keinen von unserer Familie erkannte.
Mich schmerzte es vor allem, dass ich mich kaum noch an die Frau erinnern konnte, die sie gewesen war, bevor sie immer weiter vergaß.

Ich drückte die Tür zum Zimmer Nummer 205 auf. Meine Oma saß in einem blassroten Sessel und blickte zum Fenster hinaus. Auf dem Tisch neben ihr stand eine Tasse, daneben eine Schachtel für Tabletten.
"Hallo Oma," sagte ich und lächelte sie an.
Sie sah zu mir.
"Es wird aber auch Zeit, dass du kommst, Liesel," sagte sie beinahe vorwurfsvoll. "Ich muss los, ich muss doch zu meinem kleinen Jungen."
Ein leises Seufzen entwich mir. Es schien kein guter Tag zu sein.
"Das ist doch mein Papa," versuchte ich zu erklären. "Er ist schon groß und hat meine Mama geheiratet. Schon vor achtzehn Jahren."
"Wirklich?" Die Miene auf ihrem faltigen Gesicht beurteilte ich als Verblüffung. "Das hat er mir gar nicht erzählt, Ursel."
Jetzt begrüßte auch mein Vater sie. Manchmal konnte sie ihn noch erkennen, doch die meiste Zeit verbrachte sie in geistiger Umnachtung.
Dafür begann sie von ihren vermeintlichen fünf kleinen Enkeln zu erzählen und ich beschloss, ihr einfach zuzuhören und Gesellschaft zu leisten anstelle ihr mitzuteilen, dass sie nur drei Enkelkinder hatte, die das Kindergartenalter längst überschritten hatten.

Ich betrachtete meine Großmutter genau, wie sie in dem Sessel saß. Das weiße Haar war ordentlich gekämmt und sie trug einen hellgelben Strickpullover. Beim Sprechen nickte sie leicht mit dem Kopf.
Wir hörten zu, wobei sie sich mehrmals wiederholte und erzählten ihr selbst etwas. Sie freute sich, dass ihr jemand zuhörte.

Später beschlossen wir, mit Oma im Rollstuhl ein wenig durch den Park hinter dem Wohnheim zu fahren. Als meine Oma im Rollstuhl saß und eine Decke um die Beine geschlungen war, gingen wir hinaus. Der Wind blies uns sanft ins Gesicht und ließ ein paar trockene Blätter aufwirbeln. Auf dem Himmel verwoben hellgraue Wolken ineinander.
"Siehst du, da vorne? Da ist eine Meise," versuchte ich sie auf einige Sachen in ihrer Umgebung aufmerksam zu machen. "Jaja. Bei mir Zuhause gibt es auch immer viele Meisen. Und dann kommt unser Nachbar mit der Schrotflinte und knallt ein paar von ihnen ab. Aber hör mal, ich muss zu meinem kleinen Jungen. Der wartet doch auf mich."

Die Zeiten, in denen Oma noch in ihrem eigenen Haus gewohnt und ihr Nachbar mit seiner Schrotflinte im Garten geschossen hatte, waren vorbei. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Schweigend setzten wir unseren Weg fort.
Nach einer Weile wechselte ich einen Blick mit meinem Vater, der den Rollstuhl schob.
"Vielleicht gehen wir besser wieder rein," sagte er schließlich. "Ich wollte noch einmal mit den Pflegern sprechen. Kannst du Oma allein in ihr Zimmer bringen?" Ich nickte. Es war ja auch nicht so schwer.
Rein in den Fahrstuhl, in den zweiten Stock und in das Zimmer. Als wir beide wieder am Tisch saßen und mein Vater noch nicht da war, spürte ich wieder die Erschöpfung in mir. Ich hatte mich so bemüht, den Tag ganz normal zu gestalten. Aber meine Gedanken schweiften ab. Ich konnte sie nicht einfach abstellen. Ich schaffte es einfach nicht.

"Kennst du das, Oma?", fragte ich halblaut. "Wenn dein Leben auf den Kopf gestellt wird und nichts mehr so ist, wie es war?"
Ungeweinte Tränen stiegen mir plötzlich in die Augen, doch ich blinzelte sie weg. Ich wollte nicht weinen. Nicht hier. Nicht jetzt. Vielleicht heute Abend, still unter meiner Bettdecke.
"Du kennst es, oder?", fragte ich erneut und meine Stimme fing an zu zittern. Der Kloß in meinem Hals schien schwer auf meiner Lunge zu liegen und machte mir das Atmen schwer.
"So war es mit Opa, nicht wahr?"

Als meine Oma gerade fünfundzwanzig war und mein Vater zwei, war mein Großvater von einer Geschäftsreise nie wieder zurückgekehrt. Ohne ein Wort. Ohne, dass es vorher Streit gegeben hätte. Mein Vater hatte mir irgendwann einmal erzählt, was er von Oma erfahren hatte.
Er hätte sich erst einen Tag verspätet. Dann zwei. Dann eine Woche. Seine Arbeitskollegen behaupteten, dass er mit ihnen zurückgekehrt sei, aber nach Hause gekommen war er nie.
Oma hätte immer darauf bestanden, dass Opa etwas zugestoßen war und nie daran geglaubt, dass er sich einfach aus dem Staub gemacht hätte. Doch man hatte nie wieder eine Spur von ihm gefunden.
Nun hatte Oma das stattliche Alter von fünfundsiebzig erreicht. Sie hatte selten bis gar nicht über dieses Thema gesprochen, doch jetzt konnte sie sich nicht einmal mehr erinnern. Ich hatte wohl bei ihr keinen Trost, sondern einen Zuhörer gesucht.

"Gib mir mal mein Hochzeitsfoto, da, auf dem Nachttisch," erklang es da auf einmal aus dem Sessel. Mein Kopf ruckte nach oben. Ich war so sehr in Gedanken versunken gewesen, dass ich ganz vergessen hatte, dass meine Oma neben mir saß, so ruhig war sie gewesen.
Suchend blickte ich mich um, doch auf dem Nachtschränkchen stand nur ein Foto von meiner Familie aus unserem letzten Urlaub.
"Es ist nicht da, Oma."
"Wo ist es? Mein Hochzeitsfoto, gib mir mein Hochzeitsfoto."
Ratlos sah ich sie an. "Es ist nicht da. Aber ich kann es dir mitbringen."
Sie schien sich wieder etwas zu beruhigen. "Wo ist mein kleiner Junge? Er braucht mich doch."
Trauer erfasste mich urplötzlich. Meine Oma konnte sich nicht an mich erinnern, wohl aber an ihren verschwundenen Ehemann. Das rührte mich irgendwie und veranlasse mich ihr zu beteuern:
"Ich bringe dir dein Bild mit. Versprochen!"
Mein Vater trat von hinten neben mich. "Ich glaube, es ist Zeit für uns, zu gehen."

Iztal - SchattenspielWhere stories live. Discover now