Prolog: Der Gewinn

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„Dies ist kein Scherz, Sie haben wirklich gewonnen", hieß es in der E-Mail, und darunter stand Dave Hollands Unterschrift. Der Absender war natürlich nicht Dave Holland, sondern irgendeine Agentur - seine Agentur, konnte man annehmen - aber es sah ganz danach aus, als wäre die E-Mail legitim.
Die Worte begannen, vor Adams Augen zu verschwimmen, so oft hatte er sie schon gelesen.
„Sehr geehrter Adam Crowe,
Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass sie mit ihrer Kurzgeschichte „Typ retten Typ stirbt" die Jury überzeugt haben, und somit die Möglichkeit haben, an Dave Hollands exklusiven zweiwöchigen Crime Writer's Retreat nahe der italienischen Stadt Dozza teilzunehmen."
Darunter stand die genaue Adresse, die genauen Daten, und, dass er antworten sollte, um seinen Platz zu bestätigen et cetera.
Ich sollte wirklich zurückschreiben, dachte er, ich sollte meinen Platz bestätigen.
Er starrte auf die Worte.
Tausende von Leuten, und seine Geschichte hatte gewonnen? Typ retten Typ stirbt von Adam Crowe? Es fühlte sich an wie eine sehr sehr ausgeklügelte Aktion, ihn reinzulegen.
Ich sollte auf die E-Mail antworten, dachte er.
Ich sollte es jemandem erzählen. Ich fliege nach Italien.
Er beschloss, nicht mehr auf die Worte auf dem Laptop zu starren, sondern auf das Bild an der petrolfarbenen Wand dahinter, damit sich sein Rollmuskel entspannen konnte. Es war nicht gut, so lange auf etwas zu starren, das so nah vor einem war.
Das Bild auf der petrolfarbenen Wand war das berühmte Bild von Goethe in Italien, wo er mit Hut und weißem Gewand elegant vor einer italienischen Landschaft saß.
Es war eines der ersten Dinge, die Hallie aufgehangen hatte, und damit eines von sehr vielen - eine leere Wand war für Hallie ein Zeichen von fehlender Kreativität und schlechtem Geschmack.
Kennst du das Land, wo die Zitronen blühen?

Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, und mit viel zu viel Schwung ging die Tür auf. Wahrscheinlich hatte Hallie sie wie immer mit dem Fuß aufgetreten.
„Howdy, Adam", begrüßte seine Mitbewohnerin ihn, einen Eiskaffee auf dem Tisch abstellend.
„Boar, die Bio-Vorlesung war so langweilig, die hätte ich mir echt sparen können. Ich hab nur gemalt." Sie holte ihren Block aus ihrer Tasche und klatschte ihn neben dem Kaffee auf den Tisch, wobei ersterer den Kaffee leicht anstieß, und Adam ihn zur Stabilisierung festhielt. Hallie neigte dazu, Getränke zu verschütten, und Flüssigkeit auf seinem Laptop konnte er heute nun wirklich nicht gebrauchen.
„Gib dir das!" Sie schlug eine Seite auf, die so vollgekritzelt war, dass kaum noch freies Papier zu sehen war.
„Ich könnte dir kein Wort wiedergeben, was die Dozentin da erzählt hat, es war so booooring!"
Adam inspizierte die Zeichnungen genauer und musste lächeln. „Sind das Dämonen beim Kartenspielen?"
Hallie grinste zurück. „Golems. Aber nah dran."
Sie hob den Eiskaffee wieder auf und nahm einen großen Schluck, während sie um den Tisch herum ging, um einen Blick auf Adams Laptop zu werfen.
„Und, was haben wir hier? Hast du die Serienmördergeschichte weitergeschrieben?"
Für einen kurzen Moment verspürte er den Impuls, seinen Laptop zu schließen, oder wenigstens seine E-Mails, aber Hallie hatte die Worte schon gelesen.
„Whaaaat, sehe ich das gerade richtig? Du hast einen Platz in Dave Holland's Crime Writing Retreat gewonnen? Ich erzähl dir hier von meiner stinklangweiligen Biovorlesung und du sagst mir nicht, dass du zwei Wochen in Italien mit Dave Holland verbringen wirst?"
Er zuckte mit den Schultern. „Ich wollte dich erstmal ausreden lassen."
„Ach, „ausreden lassen", man Adam, das sind Neuigkeiten, sowas erzählt man sofort! Du wirst berühmt!"
Sie fischte einen Eiswürfel aus ihrem Kaffee und schob ihn sich in den Mund.
„Wem hast du's schon erzählt?" Genüßlich knusperte sie auf dem Eiswürfel herum.
„Noch niemandem."
„Niemandem? Ich bin die erste die es erfährt? Wow ich fühl' mich geehrt. Krieg' ich ein Autogramm, wenn du Dave Holland triffst?"
„Na klar. Sogar zwei, wenn du willst. Dave und ich, wir sind nach diesen zwei Wochen Besties."
„Will ich hoffen! Wer kommt denn noch alles?"
Darüber hatte er sich noch gar nicht informiert, fiel ihm auf.
Hallie nahm den Laptop an sich und rief die Website des Schreibwettbewerbs auf, an dem sie beide teilgenommen hatten - Adam mit mehr Erfolg.
„Hm... wer hat denn schon zugesagt... noch nicht so viele, wie es scheint. Die kenne ich nicht... kenne ich nicht... Ouh, Mia Winters? Die hat vor drei Jahren oder so doch „Castle of Sand" rausgebracht, das hab ich gelesen, war echt gut... ok, mal sehen, wer sich noch angemeldet hat... Was, Henry Redfern? Oh mein Gott jetzt werde ich noch neidischer!"
Adam betrachtete das Foto auf der Website. Henry Redfern hatte mit gerade mal 36 schon zwei Oscars in seinem Besitz (einen als Regisseur und einen als Drehbuchautor) und Schauspieler war er auch noch, was kein Wunder war, denn er war nicht nur groß, blond und britisch, sondern auch sehr gut aussehend.
„Am besten ich miete mich irgendwo in der Nähe von Dave's Villa ein, vielleicht in einem Hotel in diesem Dozza... komme dann zufällig mal vorbei..."
Hallie verehrte Henry Redfern und spätestens seit seinem letzten obskuren Thriller „The Hitchhiker" (dessen 70er Jahre Ästhetik und merkwürdige Stimmung beim letzten Movie Marathon dazu geführt hatten, dass Adam sich gefragt hatte, ob er jetzt schon zu viel oder doch noch viel zu wenig getrunken hatte, um den Film zu verstehen), war er Hallies Idol.
Noch einer der Gründe, warum es so komisch war, dass ausgerechnet seine Geschichte einen der fünf Plätze gewonnen hatte, und nicht Hallies „Xylophon". Es fühlte sich nicht richtig an. Er fühlte sich, als hätte er irgendjemanden betrogen, und auch wenn Hallie es nur im Spaß zugeben wollte, so wusste er, dass sie neidisch auf seinen Gewinn war.
Vielleicht sollte er den Platz einfach ihr überlassen, und sie könnte Dave Holland und Henry Redfern dann erzählen, dass sie unter dem Pseudonym Adam Crowe schrieb, warum auch immer.
„Adam, du wirst wirklich den Traum leben!"
Sie holte ihr Handy schwungvoll aus ihrer Hosentasche, so dass es ihr fast aus der Hand rutschte und auf den Esstisch fiel (Kein Wunder, dass schon so viele Kratzer darauf waren).
„Darf ich unseren Freunden die guten Nachrichten erzählen?"
Adam nickte.
„Wobei ich sowieso nicht checke, wieso du das nicht längst gemacht hast. Also ich hätte es sofort ALLEN erzählt."
Das glaube ich sofort, dachte er.
„Ich lade sie am besten direkt zu uns ein, denn heute Abend machen wir PARTY! Du wirst zwei Wochen mit Dave Holland UND Henry Redfern UND Mia Winters und noch ganz vielen anderen krassen Leuten verbringen! Das muss gefeiert werden!"
„Erst mal muss ich denen überhaupt zusagen."
„Das hast du noch nicht? Na dann hol das direkt mal nach, nachher geben die den Platz jemand anderem!"
Einmal las er sich die E-Mail noch durch, bevor er sich endlich erlaubte, ihre unglaublichen Konsequenzen zu erkennen.
„Na los, jetzt antworte schon!", drängte Hallie ihn.
Kennst du das Land, wo die Zitronen blühen? fragte Goethe.
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Wie findet ihr das erste Kapitel?🤔💕💗

A murder mysteryWhere stories live. Discover now