Kapitel 3 ~ Die Reise

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Der Wind blies kühl und trug die Gerüche von Blumen und trockenem Holz übers Land. Die Sonne war gerade über den Kamm der Berge gestiegen, als Lurri zu Pferd den Hof verließ. Pinna kreiste am Himmel und schraubte sich langsam höher.

Lurri winkte noch einmal, ehe sie ihren Blick abwandte.

Hoffentlich finden wir einige Antworten, dachte sie und legte eine Hand auf ihren Bauch. An beiden Seiten des Sattels hatte sie zwei kleinere Taschen mit ihrer Habe befestigt. In einem kleinen Sack an ihrer Hüfte befanden sich kleine Fleischbrocken. Diese dienten Pinna zur Belohnung, wenn sie nach Zuruf auf dem Handschuh landete.

Lurri lächelte. Pinna war ein ganz besonderer Vogel. Vor etwa zwei Jahren war Lurri mit ihrem Ahnen Yano ausgeritten, um einen neuen Vogel für die Falknerei zu fangen. Da es sehr gefährlich war, Kücken aus einem Horst zu stehlen, fingen die Falkner häufig ausgewachsene Tiere und zähmten sie. Die Menschen benutzten dazu Netze, doch den Luftnymphen waren andere Mittel gegeben.

So auch Lurris Urgroßvater. Als er damals das Falkenweibchen erblickt hatte, beschwor er einen starken Abwind, um den Vogel zu Boden zu drücken. Doch das Tier war schlauer und wich den Luftströmungen aus. Lurri erinnerte sich noch gut daran, das Yano beinah eine Stunde mit dem Tier gerungen hatte.

„Jetzt ist genug", grollte er und tat etwas, was Lurri bis heute noch Albträume bescherte. Yano, eigentlich ein geduldiger und sanfter Mann, bewegte energisch Hände und Arme und dirigierte damit die Luft zu einer Windhose.

In dem Strudel aus Nichts gefangen, wurde der Falke zu Boden geworfen und brach sich dabei einen Flügel und beide Beine.

„Schade", hatte Yano lediglich gesagt, den Kopf geschüttelt und sich von dem verletzten Tier abgewandt. Lurri hatte ihn angeschrien und verflucht, wie er nur so grausam sein konnte.

Yano hatte sie mit kalten grauen Augen gemustert. „Wenn du es schaffst, dass der Vogel wieder fliegt, entlasse ich dich vorzeitig aus deiner Lehre und erhältst das Zunftsiegel." Lurri hatte die Herausforderung angenommen und gemeistert. Es hatte zwar beinah ein Jahr gedauert, bis Pinnas Verletzungen geheilt waren und Lurri ihr Vertrauen erlangt hatte, doch es war die Mühe wert gewesen.

Pinna war wohl der einzige Falke, den man nicht binden musste. Lurri hatte ihr die Fußfesseln abgenommen, als Pinna wieder vollkommen gesund und wieder bei Kräften gewesen war. Doch der Vogel war nicht weggeflogen. Und auch die Wochen, Monate und das Jahr danach war Pinna bei ihr geblieben.

Wir sind verbunden, dachte Lurri und beobachtete den majestätischen Vogel am Himmel. Dank ihr war sie die jüngste Falknerin des Landes. Stolz griff Lurri an das kleine Amulett, dass sie um den Hals trug. Es zeigte eine Schwungfeder und einen Handschuh – das Siegel der Falknergilde.


Lurri war sehr zufrieden mit ihrer Verkleidung. Von einem Arbeiter ihres Vaters hatte sie sich Hosen, Hemden und ein Paar Stiefel geliehen. Der Mann war schmächtig, weshalb Lurri in der Kleidung nicht ertrank.

Ihre Mutter hatte zwar die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen, hatte Lurris Beweggründe aber verstanden. Da Lurri nicht wusste, was in Bella geschehen war, wollte sie nichts riskieren. In Verkleidung würde es ihr gelingen unauffällig in die Stadt und zu ihrer Großcousine zu gelangen.

Ihre Brüste waren mit einigen Leinenstreifen flach an ihren Körper gebunden. Das einzige Problem stellten ihre Haare dar. Die ellenlangen blonden Strähnen hatte sie zu vielen kleinen Zöpfen flechten müssen, damit sie unter die Kappe gepasst hatten.

Ein junger Falkner wird hoffentlich weniger Aufmerksamkeit erregen als eine alleinreisende Frau, überlegte Lurri und spornte das Pferd zu einer schnelleren Gangart an. Die Sonne stand schon tief am Horizont und ließ die Temperatur abkühlen. Lurri wusste, dass das nächste Dorf nicht weit war.

Sie war weit gekommen an diesem Tag. Das Heim ihrer Eltern lag beinah am Ende des Tals, das wie ein Hufeisen geformt war. Morgen Vormittag würde sie die Erzminen und das Ende des Tals erreichen. Anschließend war es lediglich ein Ritt von etwas mehr als einem Tag.

Lurri pfiff einmal und wenige Augenblicke später landete Pinna elegant auf dem Handschuh. Durch die Bäume eines kleinen Wäldchens konnte sie schon das Dorf ausmachen.

„Gleich sind wir da", flüsterte sie und atmete tief durch – die Wipfel der Bäume rauschten.

Letztes Mal musste sie ganz schön getrödelt haben. Bella lag nur zwei Tage entfernt, aber sie hatte Monate gebraucht. Lurri war aus den Briefen nicht sonderlich schlau geworden. Einige waren nur kurze Notizen, dass es ihr gut ging. Keine Ortsangaben, keine Beschreibungen von Städten oder Dörfern.

Lurri riss sich von ihren Grübeleien los, als sie auf die breite Dorfstraße ritt und am Ende des Marktplatzes einen kleinen Gasthof entdeckte. Lurri zügelte das Pferd und stieg vorsichtig ab, Pinna noch immer auf ihrer Hand sitzend.

Behutsam strich sie über die weichen Federn an der Brust des Vogels.

„Such dir ein schönes Plätzchen", murmelte sie und warf Pinna kraftvoll nach oben. Diese breitete die Flügel aus und verschwand hinter dem Dach des Gasthauses.

So einfach hätte ich es auch gern, dachte sie. Entschlossenen Schrittes ging Lurri mit den Zügeln in der Hand in den kleinen Innenhof des Hauses. Schnell band sie das Pferd fest, ehe sie in die Schankstube trat. Der kleine Raum war beinah leer, machte aber einen sauberen Eindruck.

„Guten Abend Wirt, habt Ihr ein Zimmer für mich?", sagte Lurri mit verstellter Stimme zu dem hageren Mann hinter der Theke.

„Wie lange wollt Ihr bleiben?"

„Nur diese Nacht."

Der Wirt nickte und winkte Lurri hinter sich her. „Kommt."


Schützend legte Lurri beide Hände auf ihren Bauch. Sie hatte einen Eintopf gegessen und hoffte, dass sie diesen am nächsten Morgen nicht mehr wieder sah.

Nachdem sie ihre Taschen in das kleine Zimmer gebracht hatte, war sie lediglich zum Essen nochmals in den Schankraum gegangen. Sie wollte so wenig Menschen wie möglich begegnen. Nicht jeder ließ sich von fehlendem langen Haar und flachem Brustkorb täuschen. Lurri war nicht überirdisch schön, doch ihr Gesicht war eindeutig zierlich weiblich.

Die Sonne war gerade erst untergegangen, als sie sich umgezogen und ins Bett gelegt hatte. Die Tür hatte sie zusätzlich zu dem vorhandenen Riegel mit einem Stuhl gesichert. Sie kam sich zwar paranoid vor, doch Lurri wollte kein Risiko eingehen. So würde sie längst wach sein, wenn jemand versuchte ins Zimmer zu kommen.

Lurri - Die Nymphen von Mirus (2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt