Finn

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Zuerst hatten sie über die Frage gelacht, aber Lian kannte Tolkiens Elbenprinzen tatsächlich nicht, weswegen Raffael ihm eine mehr oder weniger ausführliche Erklärung gab.

»Du kannst gut erzählen«, fand der Blonde, »und jetzt, wo wir darüber geredet haben, wer ich nicht bin, warum erzählst du da nicht etwas von dir?«

»Das wäre langweilig, so schlafen wir ein.«

»Glaube ich nicht. Was bist du von Beruf?«

Das war nun wirklich keine ganz schlechte Frage. »Ich bin Polizist. Und sogar ganz gerne.«

Mit dieser Aussage schien Raffael das Interesse des anderen zu wecken, denn der schaute ihn neugierig und auffordernd mit seinen Honigaugen an.

»Komm, leg los. Wie wird man Polizist?«

Raffael überlegte kurz. Noch nie hatte er mit jemandem darüber gesprochen, daher erzählte er dem jungen Mann nun einfach, was ihm einfiel. Dass es ihn in der Schule immer genervt hatte, wenn irgendwelche Chaoten sich ein Mobbingopfer gesucht hatten. Dass einmal ein Mitschüler tot auf der Jungstoilette gefunden worden war, mit einer Überdosis und dass ein anderes Mal ein Mädchen auf dem Abschlussball vergewaltigt worden war. Als Teenager hatte er nichts davon verhindern können, aber sich fest vorgenommen, dass er das ändern würde. Er wollte einen Beruf, bei dem er andere beschützen konnte. Darum war er Polizist.

Lian nickte immer wieder verständig und manchmal stellte er Zwischenfragen, damit Raffael nicht aufhörte zu erzählen. Einmal rüttelte er an ihm, als eine kurze Pause entstanden und sein Kopf nach vorn auf die Brust gefallen war. Doch sofort danach erzählte der junge Polizist weiter.

Als Raffael fertig war, war es immerhin schon weit nach zwei Uhr nachts. Die Batterie des Wagens gab ihren Geist auf und das Licht begann zu flackern. Ihre Hände und Finger waren kalt und als sie sich umsahen, war auch ihr Atem längst an den Scheiben kondensiert und gefroren.

»Eisblumen«, flüsterte Lian und Raffael fand es seltsam, dass jener ein so poetisches Wort benutzte, wenn es doch bedeutete, dass sie wie in einem Kühlhaus festsaßen. Das Licht erlosch.

»Hast du keine Angst?«, fragte er deshalb.

»Nein, nur um dich«, lautete die Antwort.

Wie kam Lian dazu, sie kannten sich doch kaum? Raffael wollte ihn fragen, doch der Blonde begann damit, das Handschuhfach zu durchsuchen. Auf die Idee hätten sie auch längst kommen können, denn ein Feuerzeug war darin. So konnten sie ein wenig Licht in dem eingeschneiten, dunklen Fahrzeug machen.

»Oh, das ist gut!«, fand Lian und schnipste die Flamme an.

In der Tat war es das. Der schwache Schein erleuchtete die feinen Gesichtszüge Lians und in seinen Augen schimmerten Zuversicht und Hoffnung wie warmes Gold.

»Autsch! Das wird heiß!«, rief er plötzlich aus.

»Ja sicher. Wir sollten uns abwechseln«, schlug Raffael vor und fasste vorsichtig nach dem Feuerzeug. Für einen Sekundenbruchteil berührten sich die Finger der beiden jungen Männer und es kam dem Polizisten so vor, als würde Lian im Dunkeln lächeln. Der Feuerstein war aber noch zu heiß, sonst hätte Raffael gleich mit der Flamme nachgesehen.

Als er das Feuerzeug anschnipste, schaute Lian ihn an.

»Was ist?«

»Ach, nichts.«

»Doch, du schaust so ... aufmerksam.«

»Na schön. Sag mir, warum ist ein attraktiver Typ wie du an Heiligabend allein?«

Die Frage kam überraschend und traf einen wunden Punkt. »Du bist auch allein unterwegs gewesen, Legolas.«

»Das ist was anderes. Ich war auf dem Weg zu jemandem.«

»Oh.«

»Also? Es sind noch Stunden, die wir durchhalten müssen.«

Der Polizist seufzte. »Es ist keine schöne Geschichte.«

»Wenn es deine ist, dann erzähl sie bitte.«

Raffael nickte und gab das Feuerzeug an Lian zurück. Dann begann er mit seiner Erzählung, obwohl er sie noch mit keinem anderen geteilt hatte. Doch aus einem unerklärlichen Grund vertraute er dem jungen Mann, mit dem er da unter der Rettungsdecke saß.

Er erzählte von jenem Tag im Spätherbst, wo er sich bei seinen Eltern rechtfertigen musste, weil er war, wie er war. Er bekam kein Verständnis. Nicht von seinem Vater, dem stets überarbeiteten Chefarzt und nicht von seiner Mutter, der ehrgeizigen OP-Schwester. Sie hatten es nicht mitbekommen. Ihr Sohn traf sich nicht mit den Töchtern anderer Ärzte und Schwestern, Sparkassendirektoren und Lehrerinnen, wie sie es von ihm erwarteten. Er traf sich mit Finn, einem anderen Polizeischüler. Oft. Sie waren zusammen. Ja, er war schwul. Nein, es war keine Phase und auch nicht seine Art des Protests, weil sie ihn vernachlässigt hatten. So war es eben. Seine Eltern rasteten aus. Erst sein Vater, mit Gebrüll. Dann seine Mutter, mit Tränen. Zuletzt rastete Raffael aus, vor Verzweiflung. Bis zum Weihnachtsfest war er damals längst ausgezogen.

Während der junge Mann erzählte, hatten er und Lian das Feuerzeug immer wieder abwechselnd gehalten und Raffael war sich sicher, in dessen warmen Augen mehr als nur Mitgefühl für eine bedauernswerte Familiengeschichte zu sehen. Vielmehr drückten sie eine echte Verbundenheit aus, wenn ihn der blonde Schöne so anschaute.

»Was wurde aus dir und Finn?«, fragte er mit sanfter Stimme.

»Nichts von Dauer. Nach dem Abschluss gingen wir zusammen nach Berlin. Dort war für ihn die Versuchung zu groß und für mich war seine Liebe zu klein. So was passiert, denke ich.«

»Ja, so was passiert. Aber nicht immer wieder. Irgendwann findest du einen Besseren.«

»Meinst du?«

»Das weiß ich.«

Wie Schnee, der vom Himmel fälltWhere stories live. Discover now