Alles

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Nachdem das Gas im Feuerzeug aufgebraucht war, schien es im Wagen noch frostiger als zuvor geworden zu sein. Es mochte Einbildung sein, denn die kleine Flamme hatte nicht viel mehr getan, als die Hände ein wenig zu wärmen, doch jetzt, im nahezu vollständigen Dunkel, verließ Raffael mehr und mehr der Mut.

»Wir werden hier erfrieren«, flüsterte er und hasste, wie sehr seine Stimme zitterte.

»Unsinn, nicht, solange ich bei dir bin.«

»Doch, ich weiß es. Ich bibbere. Meine Finger und Arme sind schon ganz kalt!«

»Gib her.«

Lian zögerte keinen Augenblick, nahm Raffaels Hände in seine und rubbelte sie ordentlich, um die Durchblutung anzuregen und so Wärme zu erzeugen. Er machte sogar an den Unterarmen weiter. Immer wieder pustete er mit heißem Atem auf die kalten Finger.

»Wird's besser?«

»J-ja.«

»Komm noch näher zu mir ran, ich wärme dich«, bot er Raffael an.

Der junge Polizist zögerte kurz. »Das m-macht dir nichts aus?«

»Unsinn! Natürlich nicht.«

Raffael wünschte, er könnte in Lians Gesicht und vor allem seine Augen sehen, doch das war nicht möglich. Nur der Klang seiner Stimme, nicht weniger warm als seine verborgenen Blicke, schenkte Trost. Doch die Worte klangen aufrichtig und so schmiegte sich der Polizist ganz eng an den Körper des Mannes, der ihn fest in seine Arme nahm. Raffael spürte den Atem, der sein Haar streifte, sowie das Heben und Senken von Lians Brust mit jedem Atemzug, den dieser tat. Und nach und nach wich die Hoffnungslosigkeit aus Raffaels Seele, je mehr ihn die Wärme der Umarmung des anderen umfing. Es kam ihm vor, als breitete Lian eine rauschende Decke über ihm aus, unter der er nicht nur keine Kälte mehr empfand, sondern auch einen Frieden, der schon viel zu lange in seinem Leben fehlte. Er fragte sich, ob das der Tod sei, in den er nun hinüberglitt, leise und sanft, als wenn überhaupt nichts dabei wäre. Er wünschte sich beinahe, dass es so wäre, damit er diese vollkommene Leichtigkeit nicht wieder gehen lassen müsste. Aber dann würde er Lian verlassen müssen und das wollte er auf gar keinen Fall. Also versuchte er, ihn mit den Händen zu greifen, um ihn zu halten, um sich zu halten.

»Hab keine Angst. Ich bin bei dir«, sagte die warme Stimme.

»Ich will nicht schlafen, dann sterbe ich.«

»Du stirbst nicht.«

»Mein Leben ist so sinnlos ...«

»Nein, das ist es nicht.«

»Wer bist du?«

»Ich bin Lian, du kennst mich.«

»Ich kenne mich selbst nicht.«

»Doch, das tust du. Alles ist gut.«

»Alles ist gut?«

»Ja, alles.«

Raffael wusste nicht, wie ihm geschah, denn in dem Augenblick schien die Zeit stillzustehen. Lian hob sein Gesicht mit federleichter Hand unter dem Kinn sanft an und im nächsten stillen Moment spürte Raffael, wie Lians Lippen sich auf die seinen legten. Gerade so, als wolle er ihm das kostbarste Geschenk damit machen. Und auch, als wäre Raffael selbst etwas sehr Kostbares. Der Kuss war mehr als Zärtlichkeit, er war die reine Liebe. Und so ließ sich Raffael fallen ...

Wie Schnee, der vom Himmel fälltWhere stories live. Discover now