Kapitel 6

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„Was?", krächzte ich und versuchte, mich aufzurappeln. 
„Nein, bleib liegen." 
Tayo sah mich mit demselben flehentlichen, mitleidigen Gesichtsausdruck an, von dem er in den vergangenen Tagen schon mehrere Male Gebrauch gemacht hatte. 
Wie ich diesen Blick hasste, er war in keinster Weise beruhigend, sondern einfach nur nervig.

Mein Blick sprang im Zimmer umher. Die Tür zum Badezimmer war von der rechten Wand an die linke gewandert.
Moment, das war nicht mein Krankenzimmer! 

„Verdammte Scheiße, kann mir mal jemand erklären, was zur Hölle passiert ist? Wo bin ich?" 
„Sie haben dich letzte Nacht auf dem Dach gefunden. Du hast dir mit einem Skalpell mehrmals in beide Arme geschnitten. Deswegen wurdest du zur Sicherheit in die psychotherapeutische Abteilung verlegt." 

„Was? Nein... das waren doch nur Träume, ich habe mich nicht wirklich verletzt, das waren nur Träume. Woher sollte ich ein Skalpell haben?" 
Ich entriss ihm meine Hand.
Mein Blick fiel auf meine Unterarme, die mit dicken Verbänden umwickelt waren. 

„Du hast es geklaut, offenbar hast du die Tür des Lagers geknackt und hast es von dort mitgenommen." Er runzelte die Stirn. „Träume? Plural?"

„Es war das dritte Mal, dass ich es geträumt habe... Scheiße, waren die anderen beiden etwa auch Wirklichkeit?" 
Würden sie mich einweisen? Gab es ein Protokoll für Vorfälle wie meinen? War sowas überhaupt schon einmal passiert? 

„Es gibt dafür keine Anzeichen, du bist zuvor nie mit Verletzungen aufgewacht", mischte sich Dr. Bernadette ein, die offenbar schon die ganze Zeit in der Ecke des Zimmers auf einem Sessel gesessen hatte.

„Aber was ist, wenn die Wunden einfach in wenigen Stunden verheilt sind, genau wie beim Unfall?", meine Stimme war schrill. „In meinem zweiten Traum habe ich das Skalpell vom Dach herunter geworfen, es ist glaube ich im Blumenbeet gelandet, ich muss nachschauen ob..." Ich machte Anstalten, aufzustehen.

Dr. Bernadette hielt mich zurück. „Bleib liegen, ich werde jemanden schicken, um nachzusehen", versprach sie wenig überzeugend. 
„Werden Sie mich einweisen? Haben sie mich schon eingewiesen?" 
„Du bist nur hier, damit ich dich besser beobachten kann. Außerdem ist das Pflegepersonal auf dieser Etage hervorragend ausgebildet, was suizidales und selbstzerstörendes Verhalten angeht. Wir werden anhand der Beobachtungen in den nächsten Tagen entscheiden, ob du eine therapeutische Behandlung benötigst." 

Na super. Mein 'Weg zurück in ein weitestgehend normales Leben' war gerade um einige hundert Kilometer länger geworden. Sowas konnte echt nur im Krankenhaus passieren.

„Warum ist die Rede von Träumen?", fragte Dr. Christiansen, die im Türrahmen stand. 
„Tara hat zweimal in Folge geträumt, im Regen weinend auf dem Dach zu stehen und sich selbst zu verletzen", erklärte Dr. Bernadette. 
„Warum hat man mich darüber nicht in Kenntnis gesetzt?", fuhr sie Dr. Bernadette an. 

Sie war offenbar einer dieser Menschen, die über alle Informationen über jegliche Personen verfügen mussten, um zufrieden zu sein.
Sie wäre sicherlich auch empört darüber, nicht zu wissen, dass ich allergisch gegen Erdnüsse war und als Kindergartenkind an der Lunge operiert worden war, weil ich eine ungekochte weiße Bohne eingeatmet hatte. 

„Es ist mir als Taras Psychologin nicht gestattet, persönliche Informationen an Dritte weiterzugeben, es sei denn, es gibt Anzeichen dafür, dass die Patientin eine Gefahr für sich oder andere darstellen könnte. Ihre Aufgabe ist die physische, meine die psychische Gesundheit der Patientin. Ich hielt die Träume für irrelevant für ihre physische Gesundheit."

„Nun gut", schnaubte Dr. Christiansen, „ich habe noch andere Patienten. Ich verlange das Protokoll der vergangenen und jeder zukünftigen Sitzung zu sehen, ihrer Intuition die Patientin betreffend ist anscheinend nicht zu vertrauen." 
Sie wirbelte herum und verließ mit stampfenden Schritten das Zimmer. 

Ignio et Aqua ~ Zorn des Verbannten ~Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt