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Ich ging Montag mit gesenktem Kopf den Korridor entlang und die Treppe hoch. Ich hatte absolut keine Lust sie in einem der Räume, deren Türen offen standen, zu sehen, wie sie schekernd und gut gelaunt mit Kollegen sprach. Nur der Gedanke daran ließ Wut in mir aufsteigen.
Was dachte sich diese Frau nur?
Das sie einfach Regeln und Herzen brechen konnte, wie sie wollte? Sie hätte mich aufhalten sollen, hätte mich wegdrücken oder Ohrfeigen sollen, wie es in den alten Filmen immer war, wenn der Mann zu aufdringlich an die Frau tritt.
Nur das ich kein Mann war. Sondern eine Frau, eine Schülerin. Ihre Schülerin.

Lena hatte ihre Krankheit überstanden und ging neben mir am Geländer. "Was los? Alles gut? Oder suchst du Centmünzen auf den Treppenstufen?" Sie lachte. "Nee. Alles gut. Ich bereite mich mental auf die Stunde vor." Schulterzuckend gingen wir weiter. Ich war überrascht, dass sie nichts erwiderte, aber auch erleichtert, dass sie sich mit meiner abweisenden Antwort zufrieden gab.

Ich stapfte, noch immer nach unten sehend, die letzten Stufen hinauf und knallte in letzter Sekunde in jemanden hinein. Ich verlor das Gleichgewicht und hätten mich Lena und Johanna nicht von hinten und der Geländerseite abgestützt, wäre ich blindlings rückwärts die Treppe wieder runter gesegelt.

Es gab einen laut hallenden Knall und eine Box mit Arbeitsmaterialien verstreute sich auf dem Flurboden.
Liz fuhr wie von einer Biene gestochen rum und wollte gerade mit einem beleidigten Gesichtsausdruck ihre Beschwerde loswerden, als ihr scheinbar klar wurde, wer sie angerempelt hatte.
Ihr blieben sichtbar die Worte im Hals stecken.
Ich wandte meinen erschrockenen Blick sofort von ihr ab und begann am Boden knieend die Sachen zu sortieren und wieder in den Korb zu legen. Mist. Da wollte ich sie einmal nicht sehen und prompt marschier ich in sie rein. Scheise.

Lena und Johanna halfen mir und die Blätter waren schnell wieder im Korb.
Währenddessen konnte ich ihren Blick klar auf mir spüren, wusste nur nicht ob er aufregender oder entspannter Natur war.
Nun bückte sich auch Liz und hob den Korb hoch. Unsere Blicke trafen sich nur für einen Bruchteil einer Sekunde, doch ließ es in mir ein Feuer entzünden, dass sich schlagartig in meinem ganzen Körper ausbreitete und mich bewegungsunfähig machte.
Für einen kurzen Moment war ich kurz davor, alles Gute zu verlieren, mir das zu holen, was mir zustand und was mich nur noch mehr in die Scheise reiten würde.
Doch ich blieb starr. Sie hingegen zeigte keine Regung und ging einfach, nachdem sie den Korb aufgehoben hatte, Richtung Klassenraum.

"Ey kommst du jetzt?" Lena rief mir vom Raumeingang zu, nachdem sie Liz Platz gemacht hatte. Sie kam auf mich zu und zog mich regelrecht in den Raum. "Man was is mit dir? Aufwachen! Komm rein jetzt. Hinsetzen." Sie schliff mich auf meinen Platz, auf dem ich mich fallen ließ, Blick wie die ganze Zeit davor auf den Boden gerichtet. "Du bist echt komisch heute. Kann ich dir irgendwie helfen?" Lena sah mich mit einem traurigen, aber fragenden Blick an. "Mir is nicht mehr zu helfen. Ich hab bloß so keinen Bock auf die Stunde und die Blöde Auswertung. Ich bekomm eh ne schlechte Note und meine Zeit kann ich auch mit besserem vergeuden, als mich von ihr da vorne dumm belabern zu lassen." Sie zog die Augenbrauen hoch. "Ich dachte du magst sie? Du schwärmst doch immer so von ihr. Was hat sich geändert? Aber naja, ich kann dich verstehen. Die bewertet echt hart."
Sie ließ sich nun auf ihrem Stuhl die Lehne ein bisschen runter rutschen und schaute erwartungsvoll nach vorne, wo Liz schon begonnen hatte den Bewertungsbogen auf den alten Overheadprojektor aufzulegen.
Es sah gar nicht mal schlecht aus. Alle waren nicht schlechter als 3 und es gab sogar, so weit ich es erkennen konnte 6 Einsen.
"Alles klar. Guten Morgen. Wie ihr seht sind das eure Projektergebnisse. Ich bin soweit mit euren Leistungen zufrieden, an manchen Stellen gibt es aber vor allem theoretisch Nachholbedarf. Das müsst ihr für die Klausur nach den Herbstferien unbedingt noch wiederholen. Fragen?" Sie ließ ihren Blick über unsere Köpfe schweifen, blieb aber bei keinem länger stehen. "Wenn es keine gibt, gebe ich jetzt die Notenzettel aus. Ich habe bei Manchen etwas drunter geschrieben, sagt mir, wenn ihr was nicht lesen könnt." Sie nahm den Stapel Blätter und begann durch den Raum zugehen. Mit jedem Zentimeter den sie sich auf mich zu bewegte, stieg mein Puls. Doch sie blieb nicht bei mir stehen, sonder gab Lena ihr Blatt und ging wieder vor. "Irgendwie ist sie schlecht gelaunt, heute." Flüsterte Lena, während Ich die Arme verschränkte. "Ist sie doch meistens. Nix neues." "Mh. Zicke." Ich sah sie amüsiert an und mit dem ersten richtigen Lächeln seit Tagen richtete ich mich auf. "He, Lass sie das bloß nicht hören." Jetzt begann auch Lena zu lachen und es tat überraschend gut sie wieder neben mir sitzen zu haben. "Meine Note erfahre ich dann wohl aus dem Internet." Mumelte ich vor mir her. "Oder du gehst wie jeder normale Mensch nach der Stunde zu ihr und lässt dir dein Blatt geben. Aber es ist schon komisch, dass alle eins bekommen haben und du nicht." "Reiner Hass. Reiner Hass an meiner Person." Ich rollte mit den Augen. "Ha! Wenn sie dich hassen würde, würde sie dir nicht immer alles durchgehen lassen. Glaub mir die Frau kann dich leiden. Ich sag nur 'komm ich helfe dir beim Aufräumen'." Lena formte mit ihren Fingern Gänsefüsschen und betonte den letzten Teil mit einem gekonnt gekünselten Ausdruck. Ich schüttelte grinsend den Kopf und gab ihr insgeheim recht. Sie ließ mir schon viel durchgehen. Nicht gemachte Hausaufgaben, vergessene Arbeitsmittel und vor allem mein Tröddeln am Ende jeder Stunde. Ich war immer die Letzte im Raum und sie wartete stets beharrlich darauf, dass ich aus dem Raum verschwand.

"Charlotte? Hallo!" Ich fuhr zusammen. Liz stand direkt vor mir. "Dein Blatt noch." Sie hielt mir das weiße A4-Große vor die Nase. "Es lag unter meinem Ordner." Ich atmete ein und nahm das Blatt vorsichtig mit Daumen und Zeigefinger. Ich vermied sie anzusehen. Allein ihr Parfüm gab mir einen Tritt in die Magengrube. Da konnte ich auf einen dränenreichen Wutausbruch ganz gut verzichten.
"Danke." Murmelte ich und ehe ich zu Lena sah, hatte Liz wieder auf ihren Absatzschuhen kehrt gemacht und stapfte nach vorne. "Obwohl ich mir nicht mehr so sicher dabei bin." Revidierte Lena ihre zuvor getane Aussage. Zusätzlich wiegte sie ihre flach ausgestreckte Hand hin und her und verzog ihr Gesicht zu einem schiefen Lächeln. "Danke." Motzte ich sie an, was sie lachend zur Kenntnis nahm. Wenn sie wüsste.

Mit diesem Gedanken drehte ich das Blatt um. Eine 2. Damit war ich voll und ganz zufrieden. Aber ich bemerkte noch etwas anderes. Auf dem makellosen weißen Papier stand in sorgfältiger Handschrift mit leichtem Bleistift eine Zahl geschrieben. Ich hielt das Baltt gegen das vom Fenster her in den Raum dringende Sonnenlicht. "Guckst du ob es druckecht ist?" Fragte Johanna interessiert schmunzelnd. "Sie guckt nach geheimen Zeichen. Jetzt wo sie in die Welt der Archäologen eingetaucht ist, können wir Großes erwarten." Ich boxte gegen Lenas Schulter. Die ganze letzte Reihe hatte unser amüsantes Kurzgespräch mitbekommen und kicherte vor sich hin. "Ich guck nur was." Versuchte ich zu beschwichtigen, aber Liz war der Tumult bereits aufgefallen und wir ernteten einen bösen Blick. "Uh, ich glaube, ich hab da Hörner blitzen gesehen." Setzte Lena noch einen nach, bei dem Leonie nun endgültig die Fassung verlor und laut losbrustete. "Was ist hier bitte so lustig? Leonie?" "Ich hab bloß nen Witz erzählt." Gab ich sarkastisch von mir. Nun gab ich mir enorm Mühe ihrem Blick stand zu halten. Ja, gerade waren wir beide wütend. Sie brauchte ein paar Sekunden um zu antworten. "Erzähl deine Witze bitte nach meiner Stunde." Mehr kam nicht. Alles was kam war "Danke." Von Leo aus der Reihe vor mir. "Ich sagte doch, dass die dich leiden kann. Du kannst ja beinah schon machen, was du willst." Verzog Lena das Gesicht. Ich winkte ab und sah nochmal auf das Blatt vor mir und schluckte, als ich endlich erkannte was ich gerade in meinen Händen hielt. Noch letzte Woche hätte ich dafür töten können.
Elisabeth Jansen hatte mir doch tatsächlich ihre Nummer auf meinen Notenbogen gekritzelt. Ich biss die Zähne zusammen und warf einen Blick nach vorne, wo sie gerade dabei war die nächsten Wochen nach den Ferien zu besprechen. Sie schien meinen Blick aber genau zu bemerken, denn wie aus Reflex drehte sie sich um und sah mir direkt in die Augen. Im Raum stieg die Spannung ins Unermessliche. Doch niemandem außer uns, schien das bewusst zu sein. Es vergingen einige Sekunden, bevor sie sich doch tatsächlich geschlagen gab und mit ihrem Unterrichtsstoff fortfuhr.

Ich hingegen behielt meinen Blick auf ihr, denn ich wusste, dass ihr das zu 100% klar war. In mir entbrannte erneut eine Flamme, die mit Spaß feurig zu lodern begann und in mir Frust auslöste. Ich hasste sie in diesem Moment wirklich. Wieso tat sie das?Wenn doch alles, was passiert war, ein Fehler war? Der Kuss, die netten Worte und der Gedanke, dass sie doch tatsächlich zu wollen schien, was ich so hilflos zu unterdrücken versuchte. Kontakt und ihre Nähe. War sie nicht mehr bei Sinnen? Ich wusste gar nichts mehr und wollte eigentlich auch gar nichts mehr wissen. Sicher war nur, dass ich jetzt Blut geleckt hatte und alles, was ich wollte eine Antwort war. Eine verdammte Antwort auf die gottverdammte Frage "Warum?"

Ihr Weg zu DirWhere stories live. Discover now