Mingde Universität

348 10 2
                                    

Fünfundvierzig Minuten nach der Abfahrt am Flughafen kamen wir in der Innenstadt an und das längere Schweigen gepaart mit meinen erstickenden Gefühlen ließ mich wieder die Flucht ergreifen.
„Herr Taxifahrer, könnten Sie mich bei der nächsten Ecke aussteigen lassen?"
„Zum ‚Eton' sind es noch einige Straßenecken?" fügte er sicherheitshalber nach.
„Ich weiß, mir ist nach einem nächtlichen Spaziergang!"
Der Fahrer bog auf eine verlassene Bushaltestelle ab und hielt den Wagen dort. Noch bevor ich Zeit hatte hinauszugehen, verschwand der Fahrer und hievte mir das Gepäck aus dem Kofferraum. Ich wurde von Lei aufgehalten, als ich seine Hand auf die meine spürte.
„Yemalinh, willst du das wirklich?"
Hoffentlich fühlte er nicht, dass sie zitterte und ich nun ganz stark sein musste. Ich wandte mich zu ihm und lächelte energisch zu. Jemand zu sagen, dass es zu spät wäre, schien in Filmen immer leichter über die Lippen zu gehen, als in der Wirklichkeit.
„Huaze Lei, es ist besser für uns."
Unentschlossen blickte er auf die Straße zwischen den Vordersitzen hindurch und dachte über meine Worte nach.
„Wenn je ein ‚UNS' existiert hätte, wäre dies immer das Ende der Geschichte."
„Sprich nicht weiter..."
Ich hörte seine bebende Stimmlage, ignorierte es und versuchte innerlich den Krieg meines Herzens und dem Verstande zu schlichten.
„Ich bedanke mich für nichts. Wenn du mich eines Tages vermissen wirst, dann lass es sein. Denn wenn du jemand anderen vergeudest und weinst, weil ich dir fehle, werde ich neben einem Mann aufstehen, der mich wertschätzt und mich niemals weggeben würde. Ich sehe keinen Grund länger hier bei dir zu sein."
Sein Gesicht wandte er zum Fenster. Die Bewegungen seiner Lider verrieten mir, dass er Tränen stoppen versuchte. Kurz neigte ich dazu, ihn in den Arm zu nehmen. Es würde nur komplizierter werden und lieber würde ich den Cut schnell möglichst absolvieren, bevor es sich noch zur Katastrophe entwickelt. Ihm waren meine Tränen auch egal. Wieso sollte ich mich nun um ihn kümmern? Wieso sollte ich mich immer nur um andere kümmern? Während die Welt immer rücksichtsloser werden würde.
„Ich werde nun den Rest meines Lebens abzüglich von dir leben! Halt dich von mir fern, dass konntest du bisher ganz gut!"
Mit diesem Satz, der keinen Widerspruch erlaubte, stieg ich auf den gutbesuchten Gehsteig, nahm mir mein Gepäck vom Gehsteig und bezahlte den angelaufenen Taxifahrer die Fahrt bis zu ihrer Haltestelle.
„Ich kann Sie auch zum Hotel fahren."
„Ist nicht nötig. Ich komme zurecht."
Gewiss, wollte ich vermeiden, dass Lei von dieser Bezahlung etwas mitbekommen würde. Daher reichte ich dem netten Taxifahrer das Geld, verabschiedete mich und schnappte mir mein Hab und Gut. Niemals würde ich zugeben, dass ich die Spannung in diesem Auto nicht mehr aushielt. Ich brauchte frische Luft um wieder klar denken zu können.
Als ich um die Ecke ging, hätte ich mich alleine wegen diesen Worten die Haare raufen können. Wie viele unausgesprochene Worte würden in einen Herzschlag passen, der aussetzte, wenn ich ihn ansah? Meine Gedanken spielten wieder verrückt. Mit der Hoffnung, dass ich ab morgen ihn nicht mehr sehen müsste, fiel mir ein Stein vom Herzen.
Dennoch ließ ich mich an der nächsten Wand in Richtung Boden gleiten. Tief in meinem Herzen schüttete ich bereits Benzin auf all die Erinnerungen und Gefühle, die zurück zu Lei führten. Ich schloss die Augen um das Feuer zu sehen, dass mir den Weg aus der Dunkelheit leuchten würde. Ab morgen würde es keinen Herzschmerz, Dramen oder Tragödien mehr geben. Ab morgen würde ich wieder ich sein, ich nickte kurz auf. Ich überlegte sogar um eine bessere Version meines selbst; nur so ein Bullshit würde es schaffen, dass ich was daraus lernte.

Es war weit nach Mitternacht als ich endlich im Eton Hotel mein Zimmer bekam. Ein Bedienstete zeigte mir den Weg zum Zimmer und fuhr mit mir in den achten Stock. Einmal rechts, einen langen Gang entlang. Dann links, einen schmalen Gang hindurch. Und schließlich eine scharfe Rechtswendung mit drei Stufen. Sie erklärte mir recht viel, was ich in meinem Zustand nicht alles aufnehmen konnte. Daher ließ ich sie einfach sprechen. Nur beim Frühstück hörte ich auf, weil schon um sieben Uhr beginnen würde, was für ein Glück. Den ganzen Weg sprach sie blubbernd über alles Mögliche im Umkreis des Hotels. Anscheinend glaubte sie, ich sei ein Tourist. Welch ein Urlauber würde seine Koffer nachliefern lassen? Verstreut um einen Konter abzulegen, versuchte ich einfach viel aufzunehmen, von dem was die Hälfte eher unbrauchbar war. Ich kannte Shanghai. Ich wuchs hier in einer ärmlicheren Gegend auf.
Ich bezuschusste bereits mit zehn Jahren durch Nachhilfestunden meine musikalische Bildung um daraus einen Beruf wachsen zu sehen. Ich war in Südkorea einer der bekanntesten Violinistinnen, die ebenso als Bühnenkünstlerin sowie Komponistin tätig wurde.  Ich präsentierte choreographierte Violin-Darbietungen sowohl live als auch in Musikvideos. Neben Geige spielte ich auch Yangqin, Piano und das traditionelle Guqin. Ich mochte als Kind bereits das veraltete Griffbrettzither. Als ich ein Zusammenspiel mit unterschiedlichen Instrumenten hörte, war ich noch einmal hin und weg.
Vor dem Zimmer ‚8181' blieben wir stehen. Sie reichte mir die silbrige Zimmerkarte und verließ mich mit den Worten in Richtung Aufzug:
„Haben Sie eine gute Nacht und ihre Koffer befinden sich bereits im Zimmer!"
Sie winkte kurz, ehe sie um die Ecke bog. Beim Öffnen der Tür kam mir ein leichter Vanilleduft entgegen; angenehm und wärmend. Meine müden Arme ließen den Koffer an der verschlossenen Tür stehen. Die Zimmerkarte steckte ich für den Strom in den Schlitz. Meine erschöpften Beine trugen mich ins Schlafzimmer. Meine schweren Lider ließen nicht mehr viel Konzentration zu. Mein verfrorener Körper versteckte sich unter den dicken Decken des weichen Bettes. Die Schuhe fielen mir wie von selbst von den Füßen. Daher fiel ich erschöpft von dem Flug, der Taxifahrt, sowie der Suche dem Hotel in das Kingsize-Bett. Die Skyline sah ich nur im Augenwinkel, noch bevor meine Lider schwerer wurden.

Am nächsten Morgen befand ich mich auf dem halben Weg zur Anmeldung stieg ich langsam die Stufen aufwärts. Tief in Gedanken zählte ich die Fortgangsprüfung zum dritten Semester auf, um mich auf ein anderes Thema zu konzentrieren, welches mir nicht den Schlaf zu rauben versuchte. Im Inneren war ich müde, erschöpft und ein kleines bisschen am Rande des Wahnsinns. Nach Außen strahlte ich mit einem Lächeln Motivation und Vorfreude aus. Wie sollte ich es auch nicht schaffen? Ich studierte in Seoul vier Semester Schauspiel um danach mit einem sehr gutem Punktestand erfolgreich mein Talent für die Bühnenkunst weiter voranzutreiben. Nun wurde ich mit meinem Lhamo-Label, was im Grunde nichts anderes bedeutete als ‚Ozean der Weisheit'. Ich wurde mit diesem Label entdeckt und seither hatte ich Ru-Lan als Managerin an der Seite stehen. Ru-Lan und Seo-Woo wurden in Südkorea zu meinen ersten Freunden, da sie nicht nur meine Liebe zur Musik teilten, sondern auch, obwohl wir fremd waren mit mir auf der Straße sangen.
Ich trug an jenem Morgen eine schwarze Cappy um unerkannt durch die Straßen wandern zu können. Mein Pferdeschwanz fiel schwungvoll und voluminös durch die Cap über den Rücken. Dazu ein bourdeauxfarbener Longsleeve, darüber einen schwarze Daunenjacke. Die Sonne brach zwar durch die dichte Wolkendecke, doch eisige Winde wehten durch die Stadt. Mit dezentem Makeup und meiner goldenen Accessoire-Brille hoffte ich, dass ich noch diskreter wirkte. Half wohl nicht sehr viel, denn als ich fast an dem oberen Plateau der Uni ankam, hörte ich bereits zwei laute Stimmen hinter mir.
„Yemalinh!"
Ich blies meine Wangen auf, und versteckte mein Gesicht hinter meinem großen Schal. Noch bevor ich mich versah, wurde ich herumgewirbelt und konnte mich rechtzeitig an den Treppenleisten festhalten. Sonst wären wir zu Dritt hinuntergepurzelt.
„Yemalinh, schön, dass du wieder hier bist!" freute sich meine kleinere Schwester und umarmte mich fest, so dass ich glaubte, gepresst zu werden.
Shancai war zwei Zentimeter kleiner als ich und doch besaß sie die Größe anderen ihren Unsinn leichter verzeihen zu können. Sie hatte von uns Beiden das größere Herz. Sie war schon immer mein Sonnenlicht, während ich ihre große Schwester mit einer schwarzen Seele war. Als Kind malte sie mich, als ihren Schatten. Sie hatte damals wohl gemeint, dass sie mich liebte wie ihren eigenen Schatten. Unsere Eltern dachten eher darüber, dass ich sie immer beschützen würde, was wohl ebenso richtig als auch falsch war. Ich konnte nicht überall auf ihren Wegen sein.
„Ich bin so froh."
Weinte Shancai? Ich drückte sie von mir weg, besah sie mir deutlicher und legte verständnislos meinen Kopf in die Schräge.
„Wer hat dir Schmerzen zugefügt?"
„Yemalinh, niemand, ich bin so froh dich nach all den Jahren wieder zu sehen. Die Telefonate und die Videoanrufe wirkten auf mich, als wären wir nicht mehr verbunden."
Ich lachte auf, klopfte auf ihre Schulter und sagte mit einer herzlichen Stimme:
„Nun, bin ich wieder in Shanghai und werde vorerst nicht mehr weggehen, außer..."
Ich stoppte, schloss kurz die Augen und knuffte Shancai dabei in die Wange.
„... außer zu manchen Auftritten, die ich geladen bin!"
„Das kann ich verschmerzen!" lachte sie noch herzlicher als ich auf.
Qinghe sah mich lächelnd an und umarmte mich schließlich. Seufzend löste ich mich zügig von ihnen und distanzierte mich ein Schritt.
„Wir sind nur froh darüber, dass du dein letztes Jahr hier machen willst.
„Oh..."
Blitzartig wandten sich Qinghe sowie Shancai mit dem Blick hinter mir, die Treppe hinab. Shancai presste ihre Lippen kurz aufeinander, ehe sie die Flucht in eines der Gebäude ergriff. Qinghe blieb bei nur eine Minute länger bei mir und sah sich die Szene mit einem Schnaufen an. Der Schwarzhaarige kam näher zu mir und flüsterte:
„Pass auf, in dieser Schule gibt es Elitestudenten!"
„Elitestudenten? Du redest aber nicht von dir selbst?" lachte ich daher unwissend und ein Tick zu laut auf.
Qinghe weichte schnell von mir ab, als er erkannte, wer hinter mir zum Stehen kam.
„Wir sollten uns auf den Weg ins Sekretariat machen. Wir versperren hier nur den Weg?"
„Hör mal, Qinghe, ich finde Shancai und dich heute wirklich seltsam, rechts neben uns ist noch vier Meter Platz, also wozu...?"
„Genau, Qinghe, wozu?" hörte ich nun eine männliche Stimme dicht an meinem Ohr drängen.
Sie strotzte nur von Überheblichkeit und Selbstanmaßung. Bei dieser Gelegenheit wandte ich mich auf der Stelle herum und blickte direkt in dunklen gefährlichen Augenpaaren, die mich auf derselben Höhe anstarrten. Der Schwarzhaarige stand eine Stufe unter die meiner. Ich stellte meinen Kopf schräg und hob meine Augenbraue. Dieselbe Mimik tat sich bei meinem Gegenüber auf. Seine Frisur, seine Haltung sowie sein Blick aggressiv. Andere Leute wären schnell eingeschüchtert.
„Ihr scheint Shancai gut zu kennen?" verlangte er zu wissen.
„Das werden Sie nie erfahren." meinte ich beharrlich.
„Yemalinh, wir sollten jetzt wirklich gehen!"
„Nein, ich möchte doch wissen, wieso Shancai vor dem hier zu flüchten versucht. Und ehrlich von dir erwarte ich keine richtige Erklärung. Also..."
Seine dunklen Augen richteten sich nun zu meinem Nebenmann, als er ihm sagte:
„Du hast es gehört, sieh zu, dass du hinter Shancai herkommst!"
„Wieso sollte ich das tun?" forderte Qinghe mehr kläglich als stark auf.
Der große und wahrlich attraktive Mann sah nun zu mir und beanspruchte mich für einige Augenblicke länger:
„Ihr seid neu an der Schule, daher werde ich Euch zur Anmeldung führen. Und nun könnt Ihr Euren Freund expedieren?"
Qinghe wollte meine Hand nehmen. Ich riss ihm diese weg und blieb stehen.
Qinghes Blicke veränderte sich und ich erahnte, dass er nachdachte. Während ich ihn beim weggehen zu sah, seufzte ich und hörte bereits im Hintergrund des anderen Mannes eine weitere Stimme sprechen:
„Entschuldigen Sie, kennen wir uns nicht?"
Schnell drehte ich mich zurück und wollte mein Mundschutz überziehen, als derjenige an dem Dunkelhaarigen vorbeiging und meine Hände beim Handeln stoppte. Seine Blicke lagen nun musternd auf meinem Gesicht und schien nicht zu realisieren, wer vor ihm stand.
„Sie heißen Yemalinh?" wollte er noch einmal als Bestätigung wissen.
„Ja, und Ihr müsst dann Feng Meizuo sein, der Adler der Ming De?"
Leicht verdutzt sah er mich intensiver an.
„Meizuo, woher kennst du sie?" kam es von dem Dunkelhaarigen.
„Ich werde dir gerne helfen zu verstehen. Nur unter einer Bedingung." bot ich beiden Männern an.
Der Dunkelhaarige schien zu verstehen und nickte noch vor Meizuo ein.
„Ich werde euch verraten, woher er mich zu kennen scheint. Im Gegenzug lasst ihr meine kleine Schwester in Ruhe."
„Kleine Schwester?" nun war es der Dunkelhaarige der verdutzt dreinblickte.
„Shancai, meinte ich. Wenn ihren Tritt schon zu spüren bekommen habt, dann rate ich euch niemals meine Faust spüren zu wollen!"
„Aber klar, ich weiß nun, woher ich dich kenne!"
Überrascht starrte ich Meizuo an, und lächelte bereits in mich herein. Schließlich war er derjenige, der zu unserem einzigen Date zu spät kam und von mir versetzt wurde.
„In Südkorea wirst du als Label-Besitzerin gefeiert, und bist du nicht die bekannte Violinistin?" sprach er das aus, was das Umfeld mitbekam und sich umsahen.
„Sag es noch lauter und die Universität weiß, dass ich es bin." verdrehte ich die Augen.
„Oh!"
Dabei erhob ich erneut meinen Schal und klärte das Rätsel um mich nicht. Sollte er selbst auf seine Niederlage zurückkommen? Aber ein Tipp würde nicht schaden.

Hibiscus GardenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt