Rᴇᴅ ᴀᴘᴘʟᴇ

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Ja, ich lebe noch. Ich weiß, das überrascht jetzt vielleicht einige. Anyways, much fun!

Dieser Oneshot spielt in der Nachkriegszeit 1945 im Herbst.
           

☁︎
𝗟𝗼𝘂𝗶𝘀 

Ich saß auf der Mauer und baumelte mit den Beinen. Meine Gedanken flogen vorbei wie die Vögel, die über den Himmel zogen; nur kurz zu sehen und klein von hier aus, viele und schwer zu greifen. Der Himmel war in ein kaltes Blau getaucht, wie an einem gewöhnlichen Herbsttag, keine Wolken waren zu sehen. Die Sonne schien auf meine hellbraunen Haare und ich legte den Kopf zurück, um mir das vom stetigen Wind kalte Gesicht wärmen zu lassen. Meine Augen schlossen sich automatisch und ich seufzte leise auf, als die warmen Strahlen mein Gesicht trafen. Helle Punkte tanzten hinter meinen Augenlidern und meine Gedanken kamen langsam zur Ruhe. Ich dachte für kurze Zeit an nichts mehr und genoss die Stille, die nur von dem leisen Vogelgezwitscher und dem Wind, der durch die grauen Ruinen wehte, unterbrochen wurde.

Alles war grau. Der Boden war mit Schutt übersät, der einst bunte Anstrich der Häuser war verschwunden und hatte Platz gemacht für das nackte Grau der Wände, das darunter verborgen lag, grüne Rasenflächen waren von dem Staub, der sich auf allem absetzte, leblos gemacht worden. Selbst die Kleidung der Leute war grau, der hartnäckige Staub fraß sich in den Stoff und entfärbte alles. Die Gesichter der Menschen waren bleich, ausgemergelt und voller Schmutz. Man sah nicht oft ein Lächeln, nur Anstrengung, Sorge und Hunger.

Es würden bessere Zeiten kommen, das wusste ich, jedoch war es angesichts des allgegenwärtigen Todes schwer zu realisieren. Jeder hatte jemanden verloren, niemand war verschont geblieben, so kam es mir vor. Trauer flutete meine Gedanken, als ich an meine Familie dachte. An meine Schwestern und meine Eltern.

Das Sonnenlicht kam mir mit einem Mal kalt und stechend vor. Meine Finger krallten sich in die brüchige Mauer unter mir. Die obere Schicht bröckelte leicht und bald waren meine Fäuste voller Staub und kleiner Steinchen, die sich in meine Handflächen bohrten. Ärgerlich öffnete ich die Augen und versuchte, den Dreck an meiner verstaubten Hose abzuwischen. Es brachte erwartungsgemäß nicht viel. Alles, was ich tat, brachte nicht das, was ich mir erhofft hatte. Der Weg zu dieser Mauer. Ich hatte gehofft, hier Frieden vor meinen Gedanken zu finden, stattdessen überkam mich die Trauer und die Hoffnungslosigkeit der Situation. Der Brief an meine Großeltern. Ich bekam nie eine Antwort von ihnen. Auch sie waren dem Krieg zum Opfer gefallen, ob nun dem Hunger, der Kälte oder einem der Bombenangriffe, war gleichgültig. Alles was zählte, war, dass ich nichts mehr hatte. Keine Familie, keine Freunde, kein Zuhause, keine Liebe. Alles hatte mir der Krieg genommen. Eine stumme Träne löste sich aus meinem Auge und fraß sich einen Weg durch den Schmutz auf meiner Wange. Ich verschloss die Augen wieder vor meiner eigenen Schwäche.

Ich hatte nie aufgeben wollen. Nun war ich kurz davor. Für was, für wen sollte ich noch leben? Es brauchte mich niemand. Meine Familie wäre enttäuscht, wenn ich aufgäbe. Das hatte mich bisher dazu bewegt, weiterzumachen. Doch ich konnte nicht mehr. Ein Mensch ohne Liebe ist wie eine Blume ohne Wasser; sie geht ein. Das hatte meine Mutter einmal gesagt. Und ich spürte es. Spürte, wie die unendliche Einsamkeit mich zerfraß. Das Verlangen nach Liebe. Hier auf dieser Mauer, in dieser Einsamkeit und Leere. Und ich war es auch. Einsam und leer.

,,Hey", durchschnitt auf einmal eine tiefe, kräftige Stimme meine düsteren Gedanken und verdrängte sie. Erschrocken öffnete ich die Augen und wischte hastig meine Träne weg. Niemand sollte sehen, wie schwach ich war. Auch, wenn es keinen kümmerte.

Am Fuß der Mauer stand ein Mann, der forschend zu mir aufblickte. Der Fremde passte nicht in das Bild. Er war nicht bleich, sein Gesicht war braungebrannt und seine dunklen, langen Locken waren weder stumpf noch fettig wie meine. Seine Kleidung war einfach, jedoch farbig und sauber. Kein Staub. Er gehörte nicht hierher, in die Trostlosigkeit und Leere der einstigen Stadt, die nun nur noch aus grauen Trümmern bestand. Er wirkte wie ein Farbklecks. In den Händen hielt er einen Korb mit Äpfeln. Sie waren knallrot und leuchteten förmlich. So eine kräftige Farbe hatte ich ewig nicht mehr gesehen, sie zog all meine Aufmerksamkeit auf sich. Und so saß ich auf meiner Mauer und starrte die Äpfel an. Sie sahen so rot und perfekt aus. Ich wollte sie anfassen, wollte wissen, ob sie echt waren.

,,Hallo?" Die Stimme des Fremden holte mich zurück in die Realität. Ich starrte ihn nur an, wusste nicht, was ich sagen sollte. Meine Augen huschten zwischen den roten Äpfeln und seinem Gesicht hin und her. ,,Was machst du da oben?", fragte er schließlich. Ich zuckte mit den Schultern. Er seufzte. ,,Willst du nicht herunterkommen?" Ich zuckte wieder mit den Schultern.

𝗛𝗮𝗿𝗿𝘆

Ich runzelte die Stirn. Er sah so verloren aus da oben. So einsam, klein und ausgebrannt. Ich wollte ihm helfen, aber ich wusste nicht, wie. Wenn er heute Abend noch da sitzt, nehme ich ihn mit, dachte ich und nickte mir selbst zu, schenkte ihm noch einen letzten Blick und ein Lächeln und ging weiter in die Trümmer hinein.

𝗟𝗼𝘂𝗶𝘀

Sein Lächeln. Wie die Sonne. Es war ein ehrliches Lächeln, eins, wie ich es schon ewig nicht mehr gesehen hatte. Es erleuchtete sein Gesicht und traf mich direkt ins Herz. Wer auch immer er so angelächelt wurde, dessen Tag würde automatisch besser werden. Er war wie ein heller Sonnenstrahl, der kurz durch die scheinbar undurchdringliche Wolkendecke meiner Leere drang und Hoffnung auf die Sonne machte. Ich wollte wieder einen freien Himmel mit Sonne, ein Leben im Licht, wollte die Wolken weghaben. Und ich wusste, dass ich das nicht allein schaffen würde. Aber er setzte seinen Weg fort, ohne sich noch einmal umzudrehen und ich brachte es nicht fertig, ihm hinterherzugehen. Also saß ich weiter auf meiner Mauer und wartete, worauf, wusste ich selbst nicht genau.

𝗛𝗮𝗿𝗿𝘆

Er saß immernoch dort. Auf eine seltsame Art und Weise war ich erleichtert. Ich hätte es mir nie verziehen, wenn ich ihm nicht geholfen hätte. Die Sonne ging schon fast unter und tauchte alles in ein goldenes Licht. Direkt vor ihm blieb ich stehen. Als er mich bemerkte, wurden seine Augen groß und er starrte mich an. Seine Augen waren von einem strahlenden Blau, das konnte ich bis hier erkennen. Aber sie waren ohne Leben. Ich wollte sie wieder zum Leuchten bringen. Wollte Leben und Licht in ihnen sehen.

,,Hey", fing ich wieder an und lächelte zu ihm hoch. Seine Augen wurden noch größer und ich meinte, einen kleinen Hoffnungsschimmer in ihnen zu erkennen. ,,Na, komm schon runter", forderte ich ihn nach einer kurzen Pause auf. Er sah mich noch kurz an und kletterte dann die Mauer herunter. Seine Bewegungen waren steif, er hatte schließlich den ganzen Tag hier gesessen.

𝗟𝗼𝘂𝗶𝘀

Er war wieder hier. Er war wirklich da. Langsam ging ich mit wackeligen Beinen auf ihn zu und starrte in seine grünen Augen, die so voller Leben waren, dass ich nicht anders konnte, als hineinzustarren. ,,Ich hab noch etwas für dich", sagte er plötzlich und griff in den scheinbar leeren Korb. Unter den Tüchern verborgen lag einer der wunderschönen roten Äpfel. Er reichte ihn mir. Wie paralysiert starrte ich auf die leuchtende Frucht.

,,Nun nimm schon", forderte er mich auf und ich sah wieder auf in seine wunderschönen Augen. Er lächelte immernoch. Mein Herz erwärmte sich und ich wusste, dass ich absolut alles tun würde, um bei dem Fremden sein zu dürfen. Er gab mir das Gefühl, lebendig zu sein. Vorsichtig streckte ich meine Hand aus und nahm den Apfel. Als ich mit meiner seine Hand berührte, durchfuhr mich ein warmer Schauer. Seine Finger waren angenehm warm.

Die Farbe des Apfels hob sich stark von dem Grau meiner verschmutzten Finger ab. Vorsichtig fuhr ich mit der Fingerspitze über die glatte, rote Schale. Er war wirklich echt.

,,Ich bin übrigens Harry", sagte der Mann auf einmal und fuhr sich durch die langen Locken. ,,Louis", flüsterte ich mit rauer Stimme. Harry roch nach Heu, Obst und Schweiß. Ich sog seinen Duft ein. Er war wie alles an ihm; lebendig. Er lächelte und mein Inneres erwärmte sich erneut. ,,Freut mich, Louis." Ich sah ihn glaube ich etwas hilflos an, wusste nicht, was ich tun sollte. ,,Hast du ein Zuhause oder Familie?", fragte er und sah mich vorsichtig an. Ich sah hinunter auf meinen Apfel und schüttelte den Kopf.

,,Dann komm", sagte er. Ich konnte ihn nur anstarren. Er streckte mir seine freie Hand entgegen. Mein Blick flog von seinen Augen zu seiner Hand und wieder zurück. Schließlich nahm er meine kalte, verstaubte Hand in seine und drückte sie leicht. Ungläubig sah ich ihn an, konnte nicht glauben, dass ich tatsächlich bei ihm sein durfte. Er lächelte wieder. ,,Komm Louis, wir gehen nach Hause", sagte er und ging mit mir an der Hand die von der untergehenden Sonne beleuchtete Straße hinunter Richtung Licht.

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Meine Deutschlehrerin wäre stolz auf die ganze Farbsymbolik xD Was sagt ihr so? See you next time!
bye

[Written 26/03/20]
[1511 words]

𝗢𝗡𝗘𝗦𝗛𝗢𝗧𝗦 | 𝗅𝖺𝗋𝗋𝗒 𝗌𝗍𝗒𝗅𝗂𝗇𝗌𝗈𝗇Where stories live. Discover now