Kapitel 10

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Laura:

Als Phil einfach rausgestürmt war, war ich ziemlich überrascht gewesen. Aber ich konnte ihn verstehen, das war jetzt wirklich ziemlich plötzlich gewesen. Ich hatte einen Onkel! Langsam freundete ich mich mit dem Gedanken an, Phil war wirklich nett und ich hätte es definitiv schlechter treffen können. Nach kurzer Zeit kam Phil wieder in mein Zimmer, er hatte gerötete Augen und sah ziemlich niedergeschlagen aus. Ich war hier anscheinend nicht die einzige mit Problemen. Wir unterhielten uns noch ein bisschen, dann musste er los. Ich umarmte ihn zur Verabschiedung und versuchte mich ganz normal zu verhalten. Das gelang mir glaube ich auch einigermaßen, äußerlich verhielt ich mich wie immer. In Wirklichkeit hatte ich Angst, Angst vor dem Alleinsein. Angst wieder in der Welt meiner Gedanken zu versinken.

Aber es ging nicht anders. Ich konnte ihn ja schlecht bitten bei mir zu bleiben. Also ging er und ich legte mich hin. Es war inzwischen schon ziemlich spät und stockdunkel draußen. Ich versuchte zu schlafen, aber mal wieder hielten meine Gedanken mich wach. Ich wälzte mich im Bett herum und versuchte an alles aber nicht an meine Familie zu denken. Aber es gelang mir nicht richtig. Jedesmal wenn ich meinen Gedanken freien Lauf ließ, schweiften sie wieder zu meiner Mutter, meinem Vater oder Phil. Alles Dinge, die ich im Moment am Liebsten vergessen wollte. Irgendwann gab ich auf. Ich war einfach zu müde. Mit dem Gesicht meiner Mutter vor Augen schlief ich schließlich ein. Ich hatte einen sehr unruhigen Schlaf, immer wieder schreckte ich hoch, nur um drei Minuten später wieder einzuschlafen. Mitten in der Nacht hatte ich einen Albtraum.

 Ich war in einem Raum, es kam mir so vor, als würde ich in der Luft schweben. Ich sah mein zehn Jahre altes Ich auf dem Boden kauern. Die bedrohliche Gestalt meines Vaters ragte über ihr auf. Er hockte sich vor sie, voller Angst  und Ekel drehte sie den Kopf weg. Er packte ihr Kinn und zwang sie ihn anzuschauen. Dann begann er zu sprechen, seine Alkoholfahne wehte ihr entgegen. "Sag das nie wieder, hörst du!", brüllte er . Ängstlich nickte das Mädchen , so hatte sie ihn noch nie erlebt. Er fixierte sie mit seinen Augen. Es waren diese Augen, die ihr am meisten Angst machten, sie hatte das Gefühl darin einen wahnsinnigen Funken erkennen zu können. "Hast du verstanden?", brüllte er. Wieder nickte sie, mehr brachte sie nicht zu Stande. Das schien ihn nur noch wütender zu machen. Plötzlich schlug er ihr voll ins Gesicht. Sie brach in Tränen aus, ich wusste noch genau wie ich mich damals gefühlt hatte. So hilflos. Und ich hatte es nicht glauben können, dass er mich wirklich geschlagen hatte. Mein Vater ging und mein jüngeres Ich rollte sich auf dem Boden zu einer Kugel zusammen. Sie weinte. Ich versuchte zu ihr zu gelangen, ich wollte sie trösten, sie in den Arm nehmen, aber ich konnte mich nicht bewegen. Je mehr ich es versuchte, desto schwieriger wurde es. Ich konnte ihr nur hilflos beim Weinen zuschauen. Und diese Hilflosigkeit machte mich fast wahnsinnig. Ich weinte, still tropften meine Tränen von meinem Gesicht. Irgendwann stand mein zehnjähriges Ich auf und trottete zur Tür. Ich hatte ein sehr schlechtes Gefühl, ich wollte sie zurückrufen. Sie nicht zu ihm lassen, ihr sagen, dass alles gut werden würde. Aber egal wie laut ich rief, sie schien mich nicht hören zu können. Sie öffnete die Tür und trat hinaus auf den Flur. Wie an einem unsichtbaren Seil wurde ich hinterher gezogen. Tränen rannen immer noch unkontrolliert über mein Gesicht. Mein jüngeres Ich machte sich auf den Weg zum  Wohnzimmer. Plötzlich begann ich zu zittern, Grauen drohte mich zu überwältigen. Ich wusste , was gleich passieren würde, ich hatte es schließlich selbst erlebt. Auf  ihrem ganzen Weg durch den Flur, der mir wie eine Ewigkeit vorkam, versuchte ich sie aufzuhalten, aber vergeblich. Irgendwann gab ich auf, es hatte keinen Sinn. Ich konnte nichts ändern, weil das alles schon passiert war. Ich konnte nur zuschauen. Sie öffnete die Tür zum Wohnzimmer und bahnte sich durch die ganzen leeren Flaschen einen Weg zum Sofa. Dort saß ihr Vater. Als sie beim Sofa angekommen war, versuchte sie ihn zu umarmen. Sie glaubte immer noch, dass alles wieder gut werden würde. Er brüllte sie an und stieß sie von sich. Überrascht taumelte sie zurück und stolperte über einen kleinen Tisch. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel. Instinktiv riss sie ihre Hände nach vorne, um sich abzufangen. Dabei landete sie in einigen der leeren Flaschen, ein paar zersprangen und Splitter bohrten sich tief in ihre Hände. Ihr Vater sprang auf und schrie sie an. Sie brach wieder in Tränen aus. Jetzt begann er auf sie einzuprügeln, Schläge donnerten auf sie herab. Es machte mich so wütend das ich nichts tun konnte, ich wollte ihr so gerne helfen. Jetzt begann er sie zu treten. Ich konnte das nicht mit ansehen, versuchte die Augen zu schließen, mich weg zu drehen. Aber ich war wie gelähmt. Sie kauerte sich auf dem Bode zusammen, wärend er weiter auf sie einschlug. ich musste etwas tun, wieder schrie ich. Nein, nein, nein!

Schweißgebadet erwachte ich. Verwirrt sah ich mich um, wo war ich? Ich schaltete die Nachttischlampe an. Schlagartig wurde es hell im Zimmer. Ich erhaschte einen kurzen Blick auf mein Zimmer im Krankenhaus, dann kniff ich die Augen zusammen. Es war so hell! Als sich meine Augen einigermaßen an die Helligkeit gewöhnt hatten, setzte ich mich auf. Ich versuchte den Traum zu verdrängen und bemerkte, dass ich eine sehr trockene Kehle hatte. Seufzend stand ich auf und humpelte ins Bad, um mir ein Glas Wasser zu holen. Nach dem Trinken fühlte ich mich schon viel besser, aber ich schaffte es nicht mehr, den Traum zu ignorieren. Erinnerungsfetzen stürmten auf mich ein, ich lehnte mich haltsuchend an die Wand. Auf der Suche nach irgendeiner Ablenkung ließ ich meinen Blick durch das Bad wandern. Schließlich blieb mein Blick an einem Rasierer hängen. Schnell guckte ich wieder woanders hin, aber mein Blick wanderte immer wieder zum Rasierer. Ohne nachzudenken griff ich danach und brach die Klingen heraus. Dann schnappte ich mir eine der Klingen und setzte sie auf meinen linken Unterarm auf.

Kurz hielt ich inne, wollte ich das wirklich tun? Wieder drohten die Erinnerungen mich zu überwältigen. Ich hielt das nicht mehr aus. Dann zog ich die Klinge durch. Einmal, zweimal, dreimal. Danach ging es mir besser. Es war irgendwie befreiend gewesen. Aber die Schnitte waren doch tiefer als gedacht und bluteten ziemlich stark. Schnell drückte ich mein T-Shirt auf die Schnitte, die dann zum Glück schon nach kurzer Zeit zu bluten aufhörten. So tief konnten sie also doch nicht gewesen sein. Nur leider war mein T-Shirt grün, sodass die Blutflecken sehr gut zu sehen waren. Nach kurzem Überlegen stopfte ich das T-Shirt in den Mülleimer im Bad. Ich musste einfach hoffen, dass niemand es finden würde, ein besseres Versteck hatte ich gerade nicht. Dann ging ich wieder ins Bett. Schlafen wollte ich nicht mehr, es wurde draußen schließlich schon langsam hell und ich hatte Angst vor weiteren Albträumen. Also saß ich die nächsten zwei Stunden einfach still im Bett und schaute aus dem Fenster.

Irgendwann kam das Frühstück und ich erwachte aus meiner Starre. Ich fragte, wann ich gehen dürfte und die Schwester meinte, dass gleich noch mal ein Arzt kommen würde und mich untersuchen würde. Wenn alles gut verheilt war, durfte ich noch heute gehen. Der Arzt kam und untersuchte mich. Zum Glück war alles okay und er meinte, dass ich die Klinik gegen Mittag verlassen dürfte. Dann sagte er: "Wir haben mit deinem Vater gesprochen, er kann dich leider nicht abholen. Alex vom Rettungsdienst hat sich netterweise bereit erklärt, dich nach Hause zu fahren, er wohnt ja bei dir in der Nähe. Er hat um zwölf Schichtende, dann holt er dich ab". Ich nickte. Das mein Vater mich nicht abholte war ja logisch, aber musste ich unbedingt mit Alex fahren? Ich hätte doch auch einfach zu Fuß gehen können. Aber ich versuchte gar nicht erst zu protestieren, sie würden mich mit meinem verstauchten Fuß niemals alleine gehen lassen. Der Arzt ging und ich hing weiter meinen Gedanken nach. Ich hatte wirklich keine Lust mit Alex zu fahren, er hatte ja alles mitbekommen und würde mich bestimmt ausfragen. Aber ich hatte keine Wahl.


Wenn ich jetzt sterben würdeWhere stories live. Discover now