Kapitel 12

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Ich lief eine Weile einfach ziellos durch die Straßen, denn ich musste dringend nachdenken und nach Hause wollte ich nicht. Noch nicht. Denn irgendwann musste ich wieder nach Hause, ob ich wollte oder nicht. Weglaufen war keine Option, lieber blieb ich bei meinem Vater als irgendwo auf der Straße zu leben. Ich sah mich um, wo war ich? Ich hatte nicht auf den Weg geachtet. Dann erkannte ich den Weg. Es war der Weg zu meinem Lieblingsplatz im Wald, immer wenn ich alleine sein wollte oder nachdenken musste, ging ich dorthin. Da es noch ziemlich früh war, beschloss ich den Rest des Tages dort zu verbringen. Ich lief den schmalen Waldweg hinauf, es ging jetzt steil bergauf und ich geriet aus der Puste. Durch meine Krücken wurde das Laufen viel anstrengender, ich brauchte für den Weg doppelt so lange wie sonst.

Nach einer halben Stunde hatte ich die kleine Waldlichtung erreicht. Sie war ungefähr dreihundert Meter vom Weg entfernt und sehr versteckt. In der Mitte lag der Stamm einer riesigen umgestürzten Eiche, der langsam verrottete. Normalerweise kletterte ich gerne auf einen der Bäume am Rand der Lichtung, von dort hatte man einen sehr schönen Blick über Köln. Aber das musste heute ausfallen, ich hatte wirklich keine Lust beim Versuch zu fallen und mir noch was zu brechen. Ich hatte die letzten Tage wirklich genug Zeit im Krankenhaus verbracht. Außerdem war ich nicht bereit, Phil schon wieder zu sehen.  Ich mochte ihn, aber ich musste das jetzt erstmal verdauen. Er war mein Onkel! Ich war mir nicht sicher, ob ich mich jetzt darüber freuen sollte oder nicht.

Meine Gedanken wanderten wieder zu meinem Vater. Jetzt erkannte ich es, Phil war meinem Vater von vor dem Unfall ziemlich ähnlich. Dem Vater, den ich so sehr vermisste. Den ich vermutlich nie wieder sehen würde. Der vermutlich für immer verloren war. Wieder stiegen mir Tränen in die Augen. Mein Vater hatte sich sehr verändert, fast nichts an ihm erinnerte noch an meinen Vater von früher. Oft suchte ich nach etwas das sich nicht verändert hatte, aber ich fand immer seltener etwas. Ich musste es endlich akzeptieren, den Vater von früher gab es nicht mehr. Der Alkohol und die Trauer hatten ihren Tribut gefordert. Jetzt begann ich richtig zu weinen. Es wurde mir einfach alles zu viel. Mit verschwommenem Blick sah ich mich auf der Lichtung um.

Alles war so friedlich, die Sonne malte goldene Lichtpunkte auf den Boden und alles leuchtete in einem wunderschönen hellgrün. Im Unterholz neben mir suchte ein Vogel nach Futter, er hackte  seinen Schnabel ein paar mal ruckartig  in den Boden, dann flog er in den wolkigen Himmel davon. In diesem Moment wünschte ich mir, auch einfach davon fliegen zu können. Meine Probleme genauso einfach hinter mir lassen zu können. Ich stellte mir vor wie es wäre, nie mehr nach Hause gehen zu müssen. Einfach frei zu sein. Es war eine wunderbare Vorstellung, aber durch sie wurde mir die Aussichtslosigkeit meiner Situation noch klarer. Ich musste allmählich darüber nachdenken, was ich jetzt machen wollte. Schließlich beschloss ich, nach Hause zu gehen und mich einfach in mein Zimmer zu schleichen.

Obwohl ich das Problem mehrmals im Kopf hin und her gewälzt hatte, war ich auf keine andere Lösung gekommen. Seufzend stand ich auf und machte mich auf den Weg nach Hause, ich konnte es ja nicht ewig aufschieben. An unserem Haus angekommen öffnete ich die Haustür und humpelte durch den dunklen Flur zu unserer Wohnungstür. Kurz blieb ich stehen und lauschte, aber alles war still. Vermutlich schlief mein Vater seinen Rausch aus. Erleichtert aber immer noch auf der Hut, öffnete ich die Wohnungstür und betrat unsere kleine Wohnung. Es blieb alles still. So schnell es ging ohne allzu viel Lärm zu machen, humpelte ich durch den Flur in mein Zimmer. Sobald ich drinnen war, schloss ich die Tür ab. Erleichtert stieß ich die Luft aus, ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich sie angehalten hatte. Sicherheit!

Ich ließ mich auf mein Bett fallen und ließ meinen Blick durch mein Zimmer wandern. Neben mir an der Wand hingen Fotos von früher. Ich wurde jedes mal traurig wenn ich sie anschaute, aber irgendwie hatten sie etwas seltsam tröstliches an sich. Also hatte ich sie hängen gelassen. Schnell stand ich auf und holte eine Kiste unter dem Bett hervor. Sie war voll mit Fotos, Erinnerungen und alten Sachen. Alles Dinge, die mich an meine Mutter erinnerten. Langsam nam ich ein Foto nach dem anderen in die Hand, auf ausnahmslos allen lächelten wir. Wir waren so glücklich gewesen. Eine perfekte kleine Familie. Ich hatte nie richtig realisiert, was für ein Glück ich hatte, bis ich es von einem Tag auf den anderen verloren hatte.

Ich guckte den Fotostapel durch und je mehr ich mir ansah, desto mehr wünschte ich mir einfach in ihnen versinken zu können. Für immer in ihnen leben zu können. Aber es ging nicht. Die Realität holte mich wieder ein. Ich sollte die Fotos weglegen, einfach für einen Moment das alles hier vergessen. Meine Mutter hätte bestimmt nicht gewollt, dass ich mich immer nur quälte. Ich musste die Vergangenheit endlich hinter mir lassen. Auch wenn es schwer war, auch wenn ich sie lieber weiter festgehalten hätte. Krampfhaft versuchte ich mich abzulenken, indem ich endlich mal in meinem Buch weiter las. Ich mochte das Buch wirklich, aber bei einem der Charaktere musste ich immer an meine Mutter denken. An ihr Lachen. Wieder spürte ich einen Stich im Herzen.

Die Erinnerungen und die Trauer überwältigten mich, wie in Trance lief ich zu meinem Schrank und zog eine der Schubladen auf. Dort lag meine Klinge, ich griff danach, riss mir den Verband vom Unterarm und zog die Klinge ohne nachzudenken dreimal durch. Es half, aber jetzt hatte ich auch noch Schuldgefühle gegenüber Phil. Wütend auf mich selbst fasste ich einen Entschluss. Ich musste mit dem Ritzen aufhören. Für Phil, für meine Mutter und für mich. Ich ging zum Fenster und guckte hinaus. Die Straße war volkommen verlassen. Ohne lange zu überlegen ließ ich die Klinge in die Büsche unter meinem Fenster fallen. Mit einem leisen Geräusch prallte sie auf, dann war sie nicht mehr zu sehen. Ich ertappte mich dabei, wie ich versuchte sie in dem Gewirr aus Ästen und Blättern zu finden. Ich riss mich von dem Anblick los, ich wollte schließlich nicht, dass ich wieder in Versuchung geriet.

Als ich mich umdrehte bemerkte ich die Blutstropfen auf dem Boden. Mehr schlecht als recht wickelte ich den alten Verband wieder um meinen Arm. Dann suchte ich nach einem Tuch um das Blut auf dem Boden wegzuwischen, aber ich hatte keins in meinem Zimmer. Also musste ich wohl oder übel in die Küche gehen und von dort einen Lappen holen. Ich wollte meinen Vater schließlich nicht wütend machen. Bevor ich meine Zimmertür aufschloss, lauschte ich noch einmal. Immer noch war alles still. Also öffnete ich die Tür und lief zur Küche. Irgendetwas kam mir komisch vor. Aber es viel mir gerade nicht ein. Ich öffnete die Tür zur Küche und schaltete das Licht an. Dann erstarrte ich. Mein Vater war auf einem Stuhl zusammen gesunken, sein Kopf lag auf dem Tisch.

Vorsichtig ging ich auf ihn zu, er reagierte nicht, noch nicht mal als ich direkt vor ihm stand. Ich stupste ihn an. Immer noch keine Reaktion. Auch auf meine Fragen reagierte er nicht. Er war ohnmächtig! Mir wurde kalt, ich begann zu schwitzen. Ich nam seinen Unterarm und fühlte seinen Puls, so gut ich eben konnte. Erleichtert atmete ich aus, er hatte noch Puls. Aber er brauchte trotzdem Hilfe! Ich rannte ins Wohnzimmer zu unserem Telefon und rief einen Krankenwagen. Dann lief ich wieder in die Küche, um zu schauen, ob ich ihm noch irgendwie helfen konnte. Da ich Angst hatte er würde vom Stuhl fallen, tat ich erstmal nichts weiter und ließ mich einfach in einer Ecke zusammensinken. Eben hatte ich nur daran gedacht meinem Vater zu helfen, aber erst jetzt wurde mir klar, was das bedeutete.

Ich hatte einen blutenden Arm, mein Vater war bewusstlos und in der ganzen Wohnung standen leere Bierflaschen. Es war offensichtlich, dass er sich nicht richtig um mich kümmerte. Ich würde nicht hierbleiben können. Irgendwie war ich erleichtert. Das Versteckspiel war vorbei.

Hey,

danke für die tausend Reads, ihr seid die Besten! Da wir jetzt wieder Aufgaben von der Schule bekommen, werde ich die nächsten Tage nicht mehr so viel Zeit zum Schreiben haben. Ich werde natürlich trotzdem versuchen so oft wie möglich zu updaten, kann aber nicht versprechen, dass ich es jeden Tag schaffe.

LG Leandra1a8a

Wenn ich jetzt sterben würdeWhere stories live. Discover now