Prolog

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Es gab Nächte, in denen das Licht versiegte, in denen düstere Erinnerungen aus den Ritzen der Gemäuer hervorbrachen.

Es gab Nächte, in denen der Himmel mit Blut befleckt war, eingekleidet in ein tiefes, schwarzes Rot, wie man es sonst nur aus den Grotten unter der Stadt kannte.

Es gab Nächte, in denen das Dunkle seinen Weg in die Herzen der Menschen fand.

Nächte wie diese.

Über den Dächern hing das Schicksal, ein Netz, gewebt aus Verzweiflung und leblosem Schmerz. Langsam senkte es sich herab und verschlang jeden Funken, der sich ihm in den Weg stellte. Der Mond verschwand, noch bevor er den Horizont erklimmen konnte, hinter den Wolken und selbst die vertraute Umgebung, die Straße, in die man jeden Abend einbog, wirkte auf einen Schlag dunkler. Bedrohlicher. Obwohl die Gaslaternen wie immer in Reih und Glied standen, zwischen ihnen erleuchtete Fensterrahmen oder das ruhige Knistern eines Feuers.

Cedric schloss seine Hände fester um den Brief, den man ihm anvertraut hatte. Das Wachs war noch warm. Lange konnte es noch nicht her sein, dass das schwere Papier zusammengerollt und versiegelt worden war. Im Schatten der Mauern hatte er das Zeichen nicht erkennen können, doch wenn er jetzt vorsichtig mit den Fingern über die Linien fuhr, spürte er die spitz zulaufenden Zacken deutlich. Es waren drei an der Zahl, jeweils gegenübergestellt, sodass sie sich nur an den Kanten berührten und gleichzeitig ein kleineres, innenliegendes Dreieck bildeten. Die Flammen, die darin züngelten, brauchte er nicht zu ertasten, das rötliche Glimmen ließ keinen Zweifel daran, wer der Absender dieses Briefes war.

Die schwarze Gilde.

Es kam nicht selten vor, dass eine solche Botschaft in den Händen eines Straßenjungen landete. Im Gegenteil, seit sich herumgesprochen hatte, dass Kinder den wachsamen Blicken der Grenzoffiziere zumeist entgingen, nahm kaum einer das Risiko auf sich, wichtige Dokumente auf dem herkömmlichen Postweg zu schicken. Erst recht nicht, wenn es sich dabei um solch düstere und kriminelle Machenschaften handelte.

Zeitgleich mit den ersten, gepflasterten Straßen von Southwark ließ Cedric den Brief unter seinem Hemd verschwinden. Hier war es besser, kein unnötiges Aufsehen zu erregen - er stach ohnehin aus der Masse heraus, so dürr und dreckig wie er war. Der einst weiße Stoff des Lakens, aus dem man ihm ein Oberteil geschneidert hatte, war längst verfärbt, seine Hose an den Knien aufgescheuert. Ein Glück, dass in der Dunkelheit wenigstens nicht die eiternde Wunde auf Höhe des Kragens auffiel, die ihn mit jedem Schritt schmerzlich daran erinnerte, dass jemand wie er in den Straßen einer aufstrebenden Stadt nur unnützer Unrat war. Gerademal gut genug, um illegale Geschäfte zu unterstützen und dabei sein Leben zu riskieren. Mit seinen acht Jahren war er bereits mehrmals dem Tod nur knapp entronnen, und das nur, weil er die Gefahr rechtzeitig witterte und klug genug war, wegzulaufen. Hinein in die Nacht, die Schutz und Schatten zugleich war.

Auch diesmal hieß ihn die Kühle der Gassen willkommen, als er das fremde und zugleich vertraute Terrain betrat. Hier standen die Häuser noch dichter. Wie gewaltige Türme schoben sie sich dem Himmel entgegen und vernichteten so das letzte Stück Freiheit. Eisengitter waren in den Backstein eingearbeitet, dahinter hatte man Leinentücher oder Holzplatten befestigt, die den Blick nach drinnen versperrten. Ein paar Sekunden verharrte Cedric vor einem der Fenster, in der Hoffnung, ein Anzeichen von Leben dahinter zu entdecken, doch es blieb alles still und dunkel. Er würde den Brief wieder einmal nur unter der Türe durchschieben oder hinter einen Stein klemmen müssen, um dann darauf zu warten, dass ihn jemand abholte.

Ein leises Seufzen bahnte sich bei diesem Gedanken seinen Weg aus Cedrics Kehle. Beim letzten Mal hatte er stundenlang im Türrahmen ausgeharrt, bis seine Augen vor Erschöpfung zugefallen waren. Die blauen Flecken, die diese Unachtsamkeit mit sich gebracht hatte, waren noch immer nicht abgeklungen, die Schläge spürte er auf seiner Haut, als wäre es erst gestern gewesen. Dennoch hatte er keinen Augenblick lang gezögert, wieder hierher zurückzukehren. Er brauchte das Geld.

Zur Bestätigung legte er seine rechte Hand auf die Brust, dorthin, wo die Umrisse des Briefes hervorragten. Er würde nicht zulassen, dass dieser als ein Häufchen Asche endete. Cedric verzog sein Gesicht, als er daran zurückdachte, wie sein bester Freund erwischt worden war. Sie hatten ihm das Papier entrissen und es verbrannt, ohne auch nur ein Wort davon zu lesen. Cedric war stehengeblieben und hatte stumm zugesehen. Hatte zugelassen, dass sie James mitnahmen. Geblieben waren ihm nichts als leere Erinnerungen. Und ein verkohlter Fetzen, den er aus dem Feuer gerettet hatte. Ein Mahnmal, das ihn davon abhielt, anzuhalten.

Erst, als Cedric die Collingwood Street verließ und in eine kaum wahrnehmbare Seitengasse einbog, wagte er es, seinen Schritt zu verlangsamen und schließlich keuchend in einem Vorhof stehen zu bleiben. Vor ihm erhob sich eine efeubewachsene Hauswand, doch das Grün konnte nicht über die matten Eisenstäbe hinwegtäuschen, die unerwünschte Besucher fernhielten. Oder die Außenwelt vor dem schützte, was dort im Inneren lauerte. Je nachdem, wie man es nahm.

Cedric legte seinen Kopf in den Nacken und sah an der Fassade empor. Wie erwartet brannte hinter keinem Fenster eine Öllampe oder Kerze, nicht einmal ein vorbeihuschender Schatten war zu erkennen. Die schwarze Gilde war außer Haus. Obwohl er sich zur Genüge ausmalen konnte, was eine Gruppe an Männern um diese Uhrzeit in den Gassen anstellte, waren es nicht diese Bilder, die ihn erstarren ließen. Auch die Zacken, die sich, ähnlich wie auf dem Brief, in roter Schrift über die gesamte Breite der Wand zogen, nahm er nur unterbewusst wahr. Sein Blick galt einzig und allein der Dunkelheit. Zuerst waren es nur unscharfe Schemen, die er vom Horizont abgrenzen konnte, dann verschärften sich die Konturen zusehends, bis er sich sicher war, dass es Vögel sein mussten, die dort ihre Runden zogen. 

Hätte er genauer hingesehen, wären ihm die gewaltigen und doch filigranen Flügel aufgefallen, mit denen sich die Wesen nahezu lautlos fortbewegten, geradlinig und in einer Höhe, die kein Tier jemals erreichen konnte. Das, was in dieser Nacht über London hinweg zog, war kein Lebewesen und ebenso wenig eine Maschine, auch wenn es für ein ungeschultes Auge so wirken musste. Nein, es war etwas viel Größeres, Mächtigeres.

Cedric hatte dafür jedoch keine Gedanken übrig. Er sah nur den Federn nach, die wie Blätter herabsegelten und vom Wind vor die Hauseingänge, an die Fensterscheiben oder in die Abwasserkanäle getrieben wurden, wo sie für immer verschwanden. Nur eine einzige blieb direkt vor seinen Füßen liegen, sodass er gar nicht anders konnte, als sie aufzuheben, ehrfürchtig durch die Finger gleiten zu lassen und schließlich unter seinem Hemd zu verstecken. Den Brief zog er mit einem flauen Gefühl im Magen hervor und schob ihn unter den Holzrahmen, bis nur noch die oberste Ecke hervorschaute. 

Im selben Moment war sie verschwunden.

Cedric brauchte eine Sekunde, bis er realisierte, was das bedeutete. Und eine weitere, bis er dazu in der Lage war, sich zu bewegen und langsam zurück zu taumeln. Die Männer der schwarzen Gilde machten keine halben Sachen. Entweder er übergab ihnen den Brief, so wie es von einem Jungen wie ihm erwartet wurde, oder er starb. Verschwand von der Bildfläche. Und keiner würde ihn vermissen. Auf der Straße galt nur das Überleben, und daran zerbrachen die meisten Freundschaften. James war der einzige gewesen, der ihm stets mit einem Lächeln begegnet war.

James.

Die Welle an Einsamkeit und Verzweiflung überflutete ihn so plötzlich, dass er nicht reagieren konnte, sondern nur schluchzend in sich zusammen sank. Was brachte es schon, wegzulaufen, wenn er niemanden hatte, bei dem er Schutz suchen konnte? Der Keller, in dem sie sich ihr Lager auf alten Kartoffelsäcken errichtet hatten, war nun leer. Niemand würde auf ihn warten, wenn er wiederkam. Niemand würde sich an ihn kuscheln, wenn der erste Schnee fiel. Er hatte noch nicht einmal jemanden zum Reden. Cedric umschlang zitternd seinen Körper. War er daran schuld, dass sein Freund nicht mehr da war? Hätte er ihn beschützen sollen anstatt hilflos die Flucht zu ergreifen?

Mit jeder Frage, die er sich stellte, keimten mehr Zweifel in dem Jungen auf, bis er schließlich völlig entkräftet in sich zusammen sank.
Unwissend, dass hinter der Tür, keine zwei Meter von ihm entfernt, bereits jemand stand, dessen Hand auf der Klinke ruhte.
Und dieser Jemand brauchte sie nur herunter zu drücken - und sein tiefster, innigster Wunsch würde in dieser Nacht in Erfüllung gehen. 

In jener Nacht, in der der Himmel blutete und weinte.

In jener Nacht, in der das Dunkle in die Herzen der Menschen zurückkehrte.

Herz aus SteinWhere stories live. Discover now