1 - Graham

77 13 80
                                    

Die Feder lag schwer in seiner Hand. Ihr Kiel war mit Ornamenten verziert worden, ein verwobenes Netz, das schließlich mit dem schwarzen Flaum verschmolz. Auf den ersten Blick schien es, als hätte die Natur die filigranen Linien erschaffen, und doch strahlten sie eine so stählerne Kälte aus, wie es nur eisernes Metall vermochte. Sein erster Impuls war es gewesen, die Feder auf der Stelle fallen zu lassen, nur die Blicke in seinem Rücken hatten ihn davon abgehalten. Insgeheim musste er dafür dankbar sein.

Graham starrte mit zusammengepressten Lippen auf die spiegelnde Oberfläche, die bereits mit einem tiefen Blau überzogen war. Ein kleiner Tropfen hatte sich an der Spitze gebildet, ein Zeichen, dass es an der Zeit war, seinen Namen im Pergament zu verewigen. Wie es vor ihm hunderte getan hatten, wie es nach ihm hunderte tun würden. Das vergilbte Blatt war an den Rändern längst eingerissen und mit unzähligen, eingetrockneten Tintenstrichen bedeckt. Dazwischen tauchten einzelne Buchstaben auf, doch es waren zu wenige, um die Namen der Anwesenden herauszulesen. Nicht einmal die Unterschrift des Mannes, der für diesen Vertrag verantwortlich war, konnte er unter dem Gekritzel ausmachen, geschweige denn irgendwelche Informationen, worauf er sich einließ. Entweder hatte es nie Bedingungen gegeben, oder sie waren im Laufe der Zeit so tief in die Tierhaut eingedrungen, dass nun nur noch verblasste Schatten von den ehemaligen Zeilen zeugten. 

Unschlüssig tauchte er den Kiel ein weiteres Mal in das bereitgestellte Schälchen ein und wartete, bis das Silber wieder mit einem gleichmäßigen, dünnen Film überzogen war. 

Sein Ziel war so nah. So verdammt nah.

»Die Feder wird ihren eigenen Weg finden, solltest du sie nicht leiten.« Von hinten näherten sich Schritte, eingebettet in das dumpfe Schleifen, mit dem der Stoff des Umhangs über den Stein glitt. Graham brauchte sich nicht umzudrehen, um ein genaues Bild des Mannes vor Augen zu haben, er kannte das Gesicht besser als sein eigenes. Und das, obwohl er ihm in der Dämmerung zum ersten Mal persönlich gegenübergestanden war. Zum ersten Mal die Stimme gehört hatte, die seine Familie auseinander gerissen hatte. Zum ersten Mal einem Mörder begegnet war.

»Graham« Instinktiv wich er zur Seite, während sich seine Finger fester um die Feder schlossen.

Er hatte seine Entscheidung gefasst. Jetzt musste er sie nur noch vollenden.

Hinter ihm wurde das Getuschel lauter, ungeduldige Blicke ruhten voller Neugier auf ihm, verborgen hinter dem Schutz der Kapuzen. In der Luft hing die Autorität wie zäher Nebel. Er hatte diese Aura von Anfang an gespürt, noch als er halb blind durch die Dunkelheit getorkelt war, und jetzt, wo er aus dem Augenwinkel das aufblitzende Metall unter den langen Kutten wahrnahm, war es unmöglich, dieser Macht zu entgehen. Oder die Tatsache zu ignorieren, dass er sich soeben auf etwas einließ, dessen Folgen ihn erst in diese Situation gebracht hatten. 

Sein Vater war einer von jenen Männern gewesen.
Und jetzt war er dabei, denselben Fehler zu begehen.

»Du verstehst es nicht, Graham!«, bäumte sich die Erinnerung an die vergangene Nacht in seinem Inneren auf.  »Du bist zu jung, um es zu begreifen!« Die Wucht, mit der ihn diese Worte trafen, raubte ihm für einen Augenblick die Luft zum Atmen, er taumelte nach vorne und stützte sich keuchend auf dem Altar ab. Anstelle des dunkel gekleideten Mannes sah er für ein paar Sekunden seinen Vater vor ihm, die Stirn mit tiefen Falten zerfurcht, die Haare mit grauen Strähnen durchzogen. In den kaffeebraunen Augen erkannte Graham sich selbst. Und das, was aus ihm werden würde.

»Dad«, presste er hervor, während er mit aller Kraft versuchte, den Schmerz in seinem Inneren zu betäuben. Er war nicht mehr der kleine Junge, der verzweifelt am Fenster stand und darauf wartete, den Schlüssel im Türschloss zu hören, die langsamen Schritte im Flur, das tiefe Seufzen, begleitet von einem gelegentlichen Schluchzen. Die Badezimmertür war zwar jedes Mal verschlossen gewesen, doch unter das prasselnde Wasser hatten sich bedrückende Schreie gemischt. Und er saß nur hilflos auf der untersten Stufe der Treppe und verwischte mit den Socken das Blut auf den Fliesen. Damals wie heute.

Herz aus SteinWhere stories live. Discover now