2 - Graham

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Die Nacht kämpfte schon mit dem ersten Licht des Tages, als Graham noch immer in der Kälte des Mauerwerks ausharrte. Man hatte ihn, kurz nachdem er den Vertrag unterzeichnet hatte, unsanft aus dem großen Saal hinausbefördert, als wäre das, was dort besprochen wurde, nicht für seine Ohren bestimmt. Dabei ging es um ihn. Durch das massive Holz waren anfangs einzelne Gesprächsfetzen gedrungen, Fragen, die aufgeworfen wurden und die noch immer in Grahams Kopf umherirrten, auch wenn es hinter der Tür längst still geworden war. Wer genau war der Junge, der seinen Vater ablösen wollte? Was wusste er über ihre geheimen Kreise? Und war er Verbündeter oder Gegenspieler? Freund oder Feind?

Vor ein paar Stunden hätte er die Antworten, ohne zu zögern, heruntergebetet, doch seit sich die Tinte in das Pergament gefressen hatte, war sich Graham in dieser Hinsicht nicht mehr so sicher. Es war Ceres' Hand gewesen, die seine geleitet hatte, was aber nicht bedeutete, dass es nicht auch sein Wille gewesen war. Irgendwo in seinem Inneren gab es eine Quelle, aus der Dunkelheit hervorsprudelte und dieses trübe Rinnsal war zu einem stetigen Fluss angeschwollen, seit ihn das kalte Gemäuer umgab. Er war hergekommen, um sich zu rächen, nicht um selbst in den Tiefen der düsteren Gemeinschaft zu versinken. Sein Ziel verblasste allerdings mit jeder Minute, die er hier tatenlos festsaß.

Der Gang, auf den man ihn gestoßen hatte, war schmal und führte etwa fünfzig Meter in jede Richtung, bis ein verriegeltes Eisengitter den weiteren Weg versperrte. Dahinter hatte Graham die Schemen einer Treppe erkannt, deren Ende in hellem Blau verschwand und einen dünnen Lichtstrahl herunterschickte. Er erlosch so schnell wie er gekommen war. Seitdem saß Graham in völliger Dunkelheit, nur der Streifen, der blass unter der Tür hindurchfiel, verschaffte ihm ein wenig Orientierung.

Gedankenverloren hob er einen kleinen Stein vom Boden auf und warf ihn gegen die nächstbeste Mauer, wo er abprallte und im Staub liegen blieb.

Hatte er die richtige Entscheidung getroffen? Besaß er überhaupt den Mut, sich Ceres in den Weg zu stellen?

Ein weiterer Stein fand seinen Weg zur gegenüberliegenden Wand, dann noch einer und noch einer. Erst als der Boden um ihn herum nur noch aus festgetretener Erde bestand, ließ sich Graham mit einem Seufzen zurücksinken.

Manchmal muss man Opfer bringen, um die Menschen zu retten, die man liebt.

Das waren die Worte gewesen, die sein Vater ihm damals ins Ohr geflüstert hatte, als er das erste Mal mit blutigen Händen heimgekehrt war.

Graham kam nicht dazu, länger über die Nacht nachzudenken, in der er am Fenster gestanden und gewartet hatte. Das Knacksen, mit dem die Türe geöffnet wurde, zog ihn augenblicklich in die Gegenwart zurück. In diesem Moment nahm er auch das Gemurmel wahr, das dumpf und zugleich kraftvoll aus dem Gewölbe schallte. Einzelne Worte gingen in dem Strom unter, es schien, als rede jeder für sich und doch als Glied eines Netzes, das Ceres über den Saal gespannt hatte.

Durch den Spalt in der Tür konnte Graham erkennen, dass sich die meisten Männer von ihren Plätzen erhoben hatten und dem Mann emporsahen. Dieser hatte den Altar erklommen und breitete nun wie ein Priester seine Arme aus. Den Kopf hatte er in den Nacken gelegt, sodass unter der Kapuze einzelne, blondweiße Strähnen zum Vorschein kamen, die sich kaum von der Haut abzeichneten. Nur die Augen stachen drohend hervor.

"Si lumen incendit obscuria"

Ceres trat noch einen Schritt näher an die Kante des Tisches heran und ließ seinen Blick durch die Reihen wandern. Kontrollierend. Beherrschend. Als wolle er sicherstellen, dass die vorherige, ausgelassene Stimmung endgültig besiegt war. Wo die Männer vor wenigen Minuten noch ehrfürchtig an den Lippen des Anführers gehangen waren, senkten sie nun reumütig den Kopf. 

Herz aus SteinWhere stories live. Discover now