5. 𝐾 𝑎 𝑝 𝑖 𝑡 𝑒 𝑙

10 0 0
                                    

Langsam schlug ich die Augen auf und brummte. Verschlafen rieb ich mir die Augen, tastete mit der linken Hand nach dem Schalter der Nachttischlampe und spähte auf den tickenden Wecker neben mir.
Erleichtert ließ ich mich wieder zurück in die Kissen fallen, als ich feststellte, dass es erst kurz nach vier Uhr morgens war.

Ich hatte gerade meine Augen wieder geschlossen, als ich plötzlich eine Stimme vernahm. Sie musste von draußen kommen, ganz sicher.

Die Stimme klang anders als alles was ich je in meinem Leben zuvor gehört hatte. Es war ohne jeden Zweifel eine weibliche Stimme, die melodisch und lockend klang. Sie sang in einer Sprache die mir fremd vorkam und von der ich kein einziges Wort verstand.

Neugierig trat ich an das Fenster und öffnete es, wobei das alte morsche Holz laut knarrte. Ich hoffte inbrünstig, dass niemand anderes von dem Lärm wach wurde.
Seltsamerweise wurde die Stimme sofort leiser, bis sie schließlich ganz verstummt war und nichts als die leisen Rufe der Eulen und das Rauschen der Baumwipfel die Nacht erfüllten.

Stirnrunzelnd schüttelte ich den Kopf und legte mich wieder zurück ins Bett.
Hatte ich das etwa alles nur geträumt?

2. Oktober 1932, Glengorm, Tobermory

Als ich am nächsten Morgen den Speisesaal betrat, fühlte ich mich alles andere als ausgeruht.

Es dauerte nicht lange bis ich in dem Gewusel Richard erblickte, der sich gerade ein Brot in den Mund schob und die Zeitung studierte.
Trotz der späten Ankunft gestern Abend sah er wie immer frisch, ausgeruht aus.

Ich sah mich einen Moment um doch die meisten anderen Plätze waren belegt und somit ließ ich mich mit einem Seufzen neben Richard nieder.
Dieser hob den Kopf und lächelte etwas. "Na, schon gespannt auf den heutigen Tag, Collins?"

"Wie meinst du das?", fragte ich müde.

Richard nahm einen Schluck von seinem Kaffee und sah mich dann mit zusammengezogenen Brauen an. "Na, dein erstes Mal auf einer Auktion."

"Ach, wie aufregend", erwiderte ich sarkastisch.

Richard seufzte. "Tu wenigstens so als würde es dich interessieren. Du siehst müde aus, hast du etwa nicht gut geschlafen?"

Ich schüttelte den Kopf. "Hast du es gestern Nacht etwa nicht gehört?"

"Nein, was denn?", fragte er verwundert und wärmte sich die Hände an der Tasse.

"Die Stimme... Jemand hat draußen gesungen, ich habe es genau gehört! Es kam aus der Richtung des Sees. Aber es hörte sich seltsam an und nicht an wie ein gewöhnlicher Mensch."

"Du spinnst, Collins," unterbrach Richard mich. "Das musst du wohl geträumt haben."
Er nahm den nächsten Schluck Kaffee. "Schluss jetzt mit deinen Schauermärchen. Heute ist ein wichtiger Tag für uns beide."

Wütend kniff die Augen zusammen. Natürlich glaubte er mir mal wieder nicht. Er hielt mich für einen seltsamen Spinner, welcher ihm nur im Weg stand und mit dem er den heutigen Tag verbringen musste.

"Ach, wenn das nicht Mr Clarke Junior ist!"
Ich wandte mich um und sah einen kleinen, etwas älteren Mann der eine rote Krawatte und ein elegantes graues Jackett trug neben unserem Tisch stehen.

"Ganz Recht, Sir", erwiderte Richard freundlich.

"Schön Sie endlich auch mal wieder zusehen. Sie sind ganz wie Ihr Vater, nur einige Jahre jünger, schlank und mit vollem Haar."
Er lachte lauthals über seinen geschmacklosen Scherz.

Richard ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und rührte etwas in seinem Kaffee.
"Verzeihung Sir, Sie sind...?"

"Ebenezer Campbell mein Name. Ich werde die Auktion heute leiten. Ich bin ein alter Freund Ihres Vaters. Als ich Sie das letzte Mal gesehen habe, konnten Sie gerade so auf dem Fußboden krabbeln und haben mit Bauklötzen gespielt. Wie schnell doch die Zeit vergeht!
Ich hoffe natürlich Ihrem Vater und seiner Frau geht es gut.
Sind Sie eigentlich verheiratet, Mr Clarke? Ich habe eine reizende Tochter zuhause, die bestimmt ganz begeistert von Ihnen wäre."

Ich seufzte und hielt mir die Stirn. Dieser Kerl schien gar nicht mehr aufhören zu wollen mit reden. Selbst der normalerweise sehr wortgewandte Richard war etwas überfordert mit dieser Situation.
Meine Wenigkeit hatte der Herr überhaupt nicht bemerkt.
Wie üblich.

Ich war wie immer nur der Schatten hinter einem erfolgreichen Mann.

Eisige FlutenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt