VIERUNDZWANZIG

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Blind lief ich die dunklen Flure entlang. Tränen verschleierten meinen Blick und liefen mir am Kinn den Hals hinunter. Ich schmeckte Salz auf meinen Lippen und leckte es ab. Krampfhaft versuchte ich Luft zu holen, doch ein Schluchzen schüttelte meinen Körper. Was war da gerade passiert? Mein Verstand wollte nicht glauben, was mein Körper schon wusste.

So viele Eindrücke und Bilder schwirrten in meinem Kopf herum. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Es herrschte buchstäblich das reinste Chaos in mir. Trauer, Wut und Empörung rangen miteinander und hinterließen ein Schlachtfeld in meinem Herzen.

Die Erinnerung an seinen Körper traf mich wie ein Dolch in den Rücken. Auch jetzt noch konnte ich seinen Atem in meinem Nacken spüren, als er mir ins Ohr flüsterte: „Du riechst so gut."

Glückshormone wurden ausgeschüttet und es kribbelte in meinem Bauch. Seine Hände wanderten über meinen Rücken und eine Gänsehaut zog sich über meine Arme. Ich war elektrisiert und alle Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Alles in mir sehnte sich nach ihm und ich konnte die nächsten Minuten kaum abwarten. Meine Lippen suchte seine und es raubte mir den Atem.

Mir lief eine Träne die Wange hinunter und ich wischte sie schnell weg. Keine Ahnung, wer noch nachts um halb vier durch die Gänge schleichen würde, doch ich hatte kein Interesse auf ungeliebte Fragen: »Ist etwas passiert?«, »Kann ich Ihnen helfen?«

Nein! Niemand konnte mir helfen!

Ich zog lautstark die Nase hoch und straffte meine Schultern. Ein letztes Mal wischte ich mir die Augen trocken und riss mich zusammen. Ich würde nicht darüber sprechen. Auch wenn meine Freundinnen mir Löcher in den Bauch fragen würden, ich würde kein Ton von mir geben, was gerade passiert war. Allein die Erinnerung daran ließ mich schwer schlucken.

Mit diesem Vorhaben im Hinterkopf steuerte ich auf meine Station zu. Noch immer brannten meine Augen und fühlten sich geschwollen an. Ich wünschte mir, einmal im Leben nicht meine Gefühle offen vor mir herzutragen.

Die gläsernen Flügeltüren gingen automatisch auf und ich betrat den dunklen Flur. Mir fiel das Schlucken schwer und ich räusperte mich. Das Geräusch hallte weit über den Flur und ich hoffte, dass meine Freundinnen mich nicht gehört hatten. Ich wollte nicht über Jona... Stopp! Denk nicht an ihn, denk nicht einmal an seinen Namen!, wies ich mich zurecht

Zur Ablenkung zählte ich die Schritte bis zum Pausenraum. Dort wollte ich einen Schluck Wasser trinken, bevor ich mich der unangenehmen Situation mit meinen Kolleginnen stellen würde. Ich starrte stur auf den Boden und zählte.

Eins, zwei, nur nicht an Jona denken, drei, vier, fünf, sechs, Mistkerl sieben, ...

»Nicky, du bist wieder da?« Die Worte trafen mich wie ein Eisblitz ins Herz. Michelles überschwängliche Worte zwangen mich zum Aufsehen. Ihr Gesicht war hell erleuchtet und sie kam mir aus dem Stationszimmer entgegengelaufen. Jana folgte ihr im geringen Abstand. Bei meinem Anblick verdunkelten sich Michelles Gesichtszüge und sie kam auf mich zugelaufen.

»Um Gotteswillen, was ist passiert?« Diese drei Worte sorgten dafür, dass meine Dämme erneut brachen. Ich fing unkontrolliert an zu schluchzen und schlug meine Hände auf die Augen. Ich wollte nicht, dass sie meine Tränen sahen, die sich unaufhaltsam einen Weg nach draußen bahnten. Ich weinte Rotz und Wasser und war nicht in der Lage, auch nur ein Ton von mir zu geben.

Michelle nahm mich augenblicklich in den Arm und ich vergrub mein Gesicht an ihrer Halsbeuge. Ihr blondes Haar roch angenehm nach Erdbeere und der Duft tröstete mich etwas. Ich ließ meinen Gefühlen freien Lauf und ignorierte, dass mein Gesicht immer nasser wurde.

»Dieser Arsch, was hat er dir bloß angetan?«, murmelte Michelle in mein Haar, während sie mir mit einer Hand über den Kopf streichelte. Diese Geste erinnerte mich so stark an meine Mutter, dass mich gleich darauf ein weiteres Schluchzen schüttelte. Meine Schultern bebten und ich bekam nur keuchend Luft.

Gegen Liebe gibt es keine Medizin Band 1Where stories live. Discover now