22 "Überfällige Gespräche"

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Als ich am frühen Abend durch das Hotel ging, um meine Mutter zu finden, erwartete mich eine Überraschung. Meine Großmutter unterhielt sich in der Rezeption mit einem älteren Herren, der mir den Rücken zugewandt hatte. Ich traute meinen Augen kaum, als ich sah, dass sie kicherte. Sie berührte seinen Oberarm während sie lachte und wirkte so glücklich, wie ich sie lange nicht mehr gesehen hatte. Plötzlich entdeckte sie mich, nahm ihre Hand von dem Mann und er drehte sich zu mir um.
„Jean?", fragte ich ungläubig und ging auf die Beiden zu. Meine Großmutter hatte doch tatsächlich gerade ihren Liebhaber aus Jugendzeiten angeschmachtet. Aber auch er sah nicht gerade abgeneigt von ihr aus. Während er mich mit den Worten: „Ah, die junge Frau, der ich mein Glück verdanke" schmunzelnd begrüßte, legte er eine Hand auf Magrets Rücken.
„Ihr habt euch wieder getroffen?", fragte ich perplex und mein Blick tanzte zwischen ihren strahlenden Gesichtern.
„Du hast mir ja eine E-Mail geschickt und da wollte ich mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen", antwortete Jean, aber meine Großmutter schwieg. Peinlich berührt hatte sie ihren Blick auf den Boden gesenkt.
„Oma, du hast mir gar nicht erzählt, dass du am Ende zu dem Treffpunkt gegangen bist." In meiner Stimme konnte man hören, dass ich verletzt war.
„Ich dachte, ich... Ich hatte das Gefühl ich schuldete es der Vergangenheit, dass ich wenigstens einmal schaute, wie Jean sich verändert hatte", sagte sie steif, richtete ihre strengen Schultern wieder auf und strich ihr langes Kleid glatt.
„Und wie hab ich mich verändert? Ich bin noch charmanter geworden, nicht wahr?", erwiderte Jean neckend. Er schien nicht bemerkt zu haben, dass die Stimmung zwischen mir und meiner Großmutter gekippt war.
„Du bist auf jeden fall vernünftiger geworden", sagte Magret und schenkte ihm ein kleines Lächeln. Er lachte, tief und rau.
„Das stimmt. Ich hab mir nach dem Sommer 1968 schnell die Hörner abgestoßen. Ein paar gebrochene Herzen waren nötig, mein eigenes voraus. Ein paar einsame Nächte und schon bin ich vernünftig geworden." Er strich sich mit der Hand über den grauen Schnurrbart. „Nun gut, ich muss los", schloss er und küsste meine Großmutter auf die Wange. Erstaunt beobachtete ich diese leichte, selbstverständliche Geste.
„Adiós", sagte ich und hob die Hand zum Abschied. Im Türrahmen blieb Jean noch einmal stehen. Die heiße Luft leuchtete um seine Silhouette herum in den dunklen Raum.
„Ach ja und melde dich Magret, wenn meine Firma hier alles streichen oder neu verputzen soll. Wie gesagt, du kriegst einen Freundschaftspreis." Er zwinkerte uns zu und sein Schatten verließ das Hotel.

„Wow, das war ja... unerwartet", sagte ich nach einem Moment des Schweigens und sah Magret mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Ich glaube, ich schulde dir eine Entschuldigung." Ich folgte ihr auf ein Handzeichen hin in ihre kleine Wohnung. Wir ließen uns an den kleinen Küchentisch sinken. Seufzend fuhr meine Großmutter sich über die Haare und befestigte eine schmale, graue Strähne, die sich aus dem festen Zopf gelöst hatte.
„Es tut mir leid, dass ich dich an dem Morgen so angeschrien habe", begann sie, „Ursprünglich wollte ich deiner Aufforderung eines Treffens auch nicht nachgehen, aber am Ende hat die Neugier gesiegt. Und da habe ich mich mit Jean so nett unterhalten, dass er meinte, er kommt mich heute besuchen."
Gedankenverloren betrachtete ich das altmodische Blumenmuster auf der Plastiktischdecke. Ich überlegte genau, was ich sagen wollte, bevor ich anfing zu sprechen: „Ich weiß, dass ich zu weit gegangen bin. Ich hätte dir den Artikel wenigstens zeigen können, bevor ich ihn an Jean und die Zeitung geschickt habe, aber ich hab es nur gut gemeint."
„Ich weiß", antwortete meine Großmutter schnell und schluckte, bevor sie mühsam die nächsten Worte formulierte. „Es tut mir wirklich leid."
Wir schwiegen einen Moment und dann fuhr Magret plötzlich mit der Hand über den Tisch und umfasste meinen Handrücken. Bedeutungsschwer drückte sie kurz meine Hand. Ihre Haut war weicher, als ich es mir vorgestellt hatte und sehr warm.
„Es tut mir leid, dass die Zeitung dich abgelehnt hat. Wäre meine Vergangenheit nicht das zentrale Thema gewesen, hätte mir der Artikel bestimmt sehr gut gefallen", sagte sie und schaute mich ernst an. Schmunzelnd lehnte mich auf meinem Stuhl zurück.

Sommer 68Where stories live. Discover now