Kapitel 8

4.4K 250 16
                                    

Belle

Ständig spürte ich Augen auf mir. Wenn es nicht der Anführer war, der mich mit seinen Blicken durchbohrte, dann waren es die misstrauischen Blicke der Anderen. Ich fühlte mich unbehaglich, rutschte automatisch näher an Mia, die die Augen geschlossen hatte. Wie konnte sie jetzt schlafen? Auch wenn die Erschöpfung an meinen Knochen nagte, brachte ich es nicht über mich, mich zu entspannen und mir eine kurze Erholung zu erlauben.

Nervös spielte ich mit meinen Fingern und zog meine Knie an die Brust, schluckte den Druck in meinem Hals runter und senkte den Blick zu Boden, um meine Umgebung bestmöglich auszublenden. 

»Hier« Die junge Dame neben Mia reichte mir eine Flasche Wasser, die ich zögerlich annahm. 

Meine Lippen spalteten sich für ein kurzes Danke, aber kein Ton verließ sie. Übermüdet öffnete ich die Flasche und nahm einen kleinen Schluck... und es tat so gut! Die Flüssigkeit schenkte meinem trockenen Hals Trost, dass mir die Tränen aufstiegen. Nicht einen einzigen Gedanken hatte ich daran verschwendet, was in dieser Flasche eigentlich sein könnte, so durstig war ich. Und ich trank weiter. Bis ich Mia weckte und ihr die Flasche weitergab. 

Dann - ich wusste nicht wie und ich wusste nicht wann - döste ich vor mich hin.  Und Stunden später, als man mich an den Füßen wachrüttelte, musste ich aufstehen und die Reise konnte weitergehen.

Umso länger wir wanderten und umso mehr Zeit verstrich, umso unsicherer wurde ich. Was, wenn mein Vater mich nicht rechtzeitig fand und sie mich umbrachten? Oder mich folterten? Oder sie mich-...? Augenblicklich schüttelte ich den Kopf, um diesen Gedanken loszuwerden. Soweit würde kein Mensch gehen. Oder? Immerhin waren es Farblose. Kriminelle. Verbrecher. Räuber. Mörder. Vergewaltiger. Betrüger. Unter ihnen war jeder mögliche Abschaum. Ich schluckte und redete mir ein, dass man mich frühzeitig auffinden würde.

Die Zeit verstrich wie im Flug. Wir waren den ganzen Tag gelaufen bis die nächste Pause anbrach und die Hälfte der Truppe wieder einschlief. Mich holte der Schlaf auch hier wieder ein, gleich nachdem ich ein halbes Sandwich essen durfte... Und als ich aufwachte, ging die Sonne erneut auf und begrüßte uns zu einem neuen Tag. Und hier waren wir. Immer noch. 

Seufzend ließ ich mir von Mia aufhelfen und folgte dem farblosen Anführer, der ganz vorne lief, da er das Vertrauen in den Anderen verloren hatte. Und während ich vor mich hin seufzte, betrachtete ich ihn. Er war muskelbepackt, breite Schultern, aufrechter Gang. Mehr konnte ich nicht erkennen. Doch länger konnte ich sowieso nicht mehr starren, denn er warf einen schnellen Blick nach hinten, weswegen ich den Blick sofort abwandte. 

Er sagte nichts. Und wir liefen einfach still weiter.

Der Weg führte ins Nirgendwo. Wir waren schon so tief in den Wald eingedrungen, dass ich schon dachte die Farblosen kannten den Weg selbst nicht. Es waren nun drei ganze Tage Wanderung. Und erst jetzt hörte ich Stimmen. Ich hörte tatsächlich Menschen. Und nicht nur das, es waren auch Kinderstimmen unter ihnen. Sie waren nicht weit weg. Wir näherten uns mit jedem Schritt dem schwarzen Viertel. Die letzten fünf bis sechs Stunden hatte man uns die Augen verdeckt, die Arme hinter dem Rücken zusammengebunden und unsere Münder mit Tüchern gestopft. War es normal, dass ich erst daran dachte wo die Tücher vorher waren?

Ich stolperte über einen Ast und landete unachtsam mit den Knien auf Steinen. Schmerzerfüllt zischte ich auf und wollte nach meinem Knie sehen, aber ich konnte nicht. Das alles hier war frustrierend! 

»Nehmt ihre Augenbinden ab.«

Gesagt, getan. Man befreite uns von den Augenbinden und legte auch unseren Mund frei. Und wäre ich mir nicht sicher, dass wir nur von Farblosen umgeben waren, hätte ich wieder geschrien. Aber mir stockte der Atem. Wir waren nun offiziell im schwarzen Viertel. Wir standen auf einer leeren Straße, welche an kaputten Häusern entlang verlief. Ich blinzelte die aufkommenden Tränen aufgrund des hellen Tageslichts weg und sah mich weiter um. Es wirkte hier alles so dunkel. Die Häuser glichen eher Ruinen als ernsthaften Häusern. Es erschien mir alles so... grau, aber auch lebhaft. Mit welchen Worten konnte man das richtig beschreiben? Es sah natürlich ganz anders aus als bei uns in den Vierteln. Mein Luxusviertel war mit teuren Hochhäusern geschmückt, teure Autos fuhren auf den gepflegten Straßen und wir hatten Landschaften, die schon fast künstlich wirkten! So schön waren sie!

Und das hier... konnten Lebewesen überhaupt darin leben? Diese Gegend war so alt und schäbig, allein das Atmen kam mir schon ungesund vor. Farblose verteilten überall ihre Bakterien und Keime und ich war hier gefangen. Trotz dieser Erkenntnis versuchte ich, das Gesicht nicht zu verziehen.

Mein Blick flog zu einem Kind, das auf uns gelaufen kam sobald es uns erblickte. Huh. Sie hatten ernsthaft Kinder. War das ein schlechter Traum?

»Drake!«, sprang das junge Mädchen erfreut in die Arme eines Farblosen. Es war sogar der Farblose, der uns entdeckt und mit Jack im Wald diskutiert hatte. Ich ordnete ihm einen hohen Rang zu. Dieser Drake verabschiedete sich mit einem knappen Nicken bei der Gruppe und verließ uns mit dem Mädchen in den Armen. Sie verschwanden in irgendeine Richtung zwischen den Ruinen.

Wir liefen weiter rein. Umso mehr Häuser uns umgaben umso mehr Menschen traten in Sicht und ich war erschüttert. Diese Menschen lebten in purer Armut und in Dreck! Ihre Kleidung war zerrissen, aber zu meiner Verwunderung nicht schmutzig. Sie saßen auf den Böden, meistens vor ihren Hütten und alle hatten ihre Blicke neugierig auf uns gerichtet. Es waren lauter Frauen und Kinder. Nur teilweise entdeckte ich hier und da einen Mann. Ich wusste nicht ob mich das faszinieren oder beängstigen sollte. Sie waren so viele! 

Unauffällig schielte ich zu Mia. Sie schien genauso überrumpelt wie vorhin noch, aber diesmal sah sie sich um und hatte aufgehört zu weinen. Erleichtert atmete ich aus und entspannte die Schultern ein wenig. Gut, dass sie wieder zu sich gefunden hatte.

»Pherb«, blieb Jack vor mir stehen und drehte sich zu uns. »Du führst beide zu Beth. Sie werden bis morgen dort unterkommen. In der Zeit verschaffen wir uns Klarheit über die aktuelle Situation.« Der Auserwählte nickte ernst. »Gut. John, versammle den Rat. Wir treffen uns in zehn Minuten im Saal. Der Rest hat vorerst frei.« Alle nickten einheitlich. »Und jeder«, sagte er im Anschluss eindringlich. »Jeder hat die Pflicht ein Auge auf die zwei zu werfen. Sie haben zu gehorchen und zu bleiben, haben wir uns alle verstanden?«

Beim Wort „bleiben" blickte er insbesondere mich streng an. Schnell senkte ich den Blick, um seinem auszuweichen. Schon klar.

»Los!«, klatschte er in die Hände und jeder widmete sich seiner Aufgabe.

Ein breitgebauter Mann mit feuerroten Haaren gesellte sich zu Mia und mir und befiehl uns ihm zu folgen, was wir auch wortlos taten. Auf dem ganzen Weg wurde kein einziges Wort mehr gesprochen. Hin und wieder schenkte ich Mia flüchtige Blicke, aber es schien als würde sie mich gekonnt ignorieren. Was stimmte bloß nicht mit ihr?! Wir steckten gemeinsam in diesem Schlamassel!

Was war ihr Problem? Es war so offensichtlich, dass sie ein ganz Anderes hatte als dieses. Ich wurde auch von Farblosen entführt, aber verhielt mich - im Gegensatz zu ihr - vernünftig!

Weitere Gedanken konnte ich erstmal nicht dafür verschwenden, da wir bereits an einer kleinen, aber feinen Hütte ankamen. Es war eins der wenigen Häuser, das einen kleinen Garten besaß. Automatisch verglich ich die Größe dieser Hütte mit der Abstellkammer in meinem Zuhause. Das hier war kleiner. 

Ich kam hinter Mia zum Stehen. Pherb klopfte an der Tür als wäre sie nicht bereits kaputt und leicht aufzumachen. Wir warteten bis eine alte zierliche Frau die Tür aufmachte und einen überraschten Laut von sich gab als sie den Farblosen entdeckte. Und dann uns... Relativ schnell überwand sie die Überraschung und schlang lächelnd ihre Arme um Pherb. So konnte ich ihr Gesicht besser erkennen. Ihre hellgrauen Haare umrandeten ihr blasses Gesicht, weswegen sie etwas krank und kalt aussah. Aber ihre braunen Augen, die irgendwie Wärme ausstrahlten, und ihr freundliches Lächeln machten ihre blasse Haut wieder zunichte. Sie sah aus wie eine typische Großmutter aus dem 20. Jahrhundert. Obwohl es heutzutage Beauty-Produkte auf dem Markt gab, die ewige Jungend versprachen und die Menschen für mehrere Jahre hinweg jung aussehen ließen.

Red Princess - Die Suche nach der Roten PrinzessinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt