𝕯𝖗𝖊𝖎𝖟𝖊𝖍𝖓 𝕺𝖉𝖊𝖗 𝖅𝖜𝖊𝖎 𝕬𝖗𝖙𝖊𝖓 𝕯𝖊𝖗 𝕽𝖊𝖆𝖑𝖎𝖙ä𝖙

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Dreizehn oder zwei Arten der Realität

"Denkst du, dass ich verrückt bin?", flüsterte Hailey leise und starrte in den wolkenlosen Himmel.
Kayden lachte laut und antwortete sofort: "Aufjedenfall! Du hast wirklich einen Schuss!"
"Nein ich meine, denkst du, dass mit mir etwas nicht stimmt? So wirklich psychopathenmäßig.", meinte der Goth nachdenklich.
"Wie kommst du da aufeinmal drauf?", der Schwarzhaarige runzelte etwas verwirrt die Stirn.
"Egal, vergiss es einfach wieder."
Mittlerweile war es dunkel geworden. Sie wussten nicht, wie lange sie hier nun schon in der feuchten Wiese lagen. Die strahlenden Sterne am Himmel. Alles war still. Nur das Rascheln der Blätter war zu hören als der Wind mit ihnen spielte und das Plätschern des Flussen ganz in der Nähe.
Der Himmel drehte sich um die beiden, doch nur sie konnten es sehen. Denn nur sie waren in dem Rausch gefangen, in dem sie sich selbst eingesperrt hatten.

"Schau mal da drüben.", Kayden deutete auf ein Sternbild am Horizont.
"Wo?", die Brünette sah sich suchend um.
"Na da, bei mir."
"Hä? Wo?"
"Na hier! Bist du blind?", der junge Mann lachte leicht und drehte seinen Kopf in ihre Richtung.
"Das nicht, aber ziemlich betrunken.", meinte Hailey und sah ihn ebenfalls an.
Sie ist schön, dachte Kayden, als er sie in dem schwachen Mondschein betrachtete, Sie ist anders schön.
"Warum musstest du auch die halbe Flasche Whiskey austrinken?", grinste der Kellener dämlich. Er selbst hatte nur ein paar Schlucke getrunken.
"Weil es mir Spaß macht.", antwortete sie trocken.
"Dir macht es Spaß dich voll laufen zu lassen?", er zog skeptisch eine Augenbraue hoch.
"Nein, es macht mir Spaß mein Leben zu leben. Weißt du, du musst es so betrachten: Es gibt zwei Arten der Realität.", Hailey wandte wieder den Blick von ihm ab und setze sich auf, "Die Eine ist wie eine gerade Linie, die sich durch unser Leben erstreckt. Sie beinhaltet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.", ihr Blick wanderte wieder zu ihm, "Die Andere ist die, die wir selbst gestalten können. Diese Linie läuft quasi Parallel zu der anderen. Doch diese Linie hat viele Ecken, Zacken und Dellen. Und gerade diese Unebenheiten machen die zweite Realität so besonders."
Kayden schwieg. Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte. So hatte er es noch nie betrachtet.
"Du kannst jederzeit der geraden Linie folgen, aber diese kantige Linie, die hat ein Limit. Denn irgendwann verschmelzen die beiden miteinander und dann sind es letzten Endes diese Ecken und Kanten, an die wir uns erinnern."
"Wow. Das war so philosophisch und weise." , Kayden schmunzelte leicht und setzte sich ebenso auf.
"Ich weiß.", Hailey schloss die Augen und genoß den kühlen Luftzug, der um sie tanzte.
"Du klingst genau wie mein Großvater." , der 24-jährige stieß sie sanft gegen die Schulter, woraufhin sie ihn nur augenverdrehend ansah.
"Das nehm ich als Kompliment. Denn tief im Inneren bin ich eine alte, verbitterte Seele."
"Das kannst du laut sagen. Uralt. So alt, als würdest du aus der Steinzeit komme."

"Denkst du, dass mit mir etwas nicht stimmt?", fragte Hailey wieder und sah Kayden an.
"Wieso frägst du das die ganze Zeit?", er fuhr sich durch die kinnlangen, zerzausten Haare.
"Weil-", ihr Blick fiel auf den halben Burge, den sie nicht aufgegessen hatte, "Dieser Burger hier."

Langsam stand Hailey auf, nahm den Burger in die Hand und ging auf die alte Eisenbahnbrücke, die direkt neben ihnen lag. Tief unter ihr erstreckte sich ein langer Fluss, dessen Plätschern ihn noch bedrohlicher in der Dunkelheit wirken ließ.
Sie beugte sich über das Geländer und sah dabei zu wie der Burger in die Tiefe fiel.
"Denkst du, dass ich auch so leblos falle, wie das billige Stück Fleisch? Oder denkst du, dass ich fliegen kann?", sagte sie mit monotoner Stimme und sah ihn an.
"Das ist doch hoffentlich nicht dein ernst!", Kayden lachte leicht und fuhr sich übers Gesicht. Er konnte Hailey einfach nicht deuten. Er verstand sie nicht. Er verstand niemanden, aber am aller wenigsten sie. Sie hatte immer den selben Gesichtsausdruck. Monoton. Neutral. Desinteressiert. Ihre Miene war kalt. Genauso wie sie.
"Ehrlich gesagt schon. Ich meine, wenn mit mir doch wirklich etwas nicht stimmt, wäre es nicht besser, wenn ich einfach so fallen würde?", Hailey beugte sich wieder leicht über das Geländer und sah in die Dunkelheit.
Langsam stand er ebenfalls auf und meinte unsicher: "Du bist betrunken."
"Betrunken und gefangen.", sagte sie leise und sah ihn wieder an.
Vorsichtig schritt Kayden auf sie zu.
"Worin bist du gefangen?", er wollte mit ihr reden. Sie ablenken. Dass sie nicht auf dumme Gedanken kam.
"In meinem Kopf.", Hailey fühlte nichts, das sagte sie immer. Doch in Wirklichkein fühlte sie einfach diese Leere in der Brust. Sie raubte ihr die Luft zum Atmen. "Ich würde so gerne Fliegen können."
Frei sein. Das war schon immer ihr Wunsch gewesen. Diese Hülle ablegen, die er damals beschmutzt hatte.
Ihre Hände klammerte sich um das Geländer, während sie sich langsam daran hinauf zog.
Das war der Moment in dem sich Kaydens Herz zu überschlagen schien. Er rannte los als hätte ihn der Blitz getroffen. Immer wieder spielte sich vor seinen Augen der Moment ab, als Hailey auf das Geländer stieg. Erst nachdem er die Arme um ihre Beine geschlungen hatte, konnte er durchatmen. Das Bild kam zum Stehen. Sie war nicht gesprungen. Sie war nicht gesprungen.

𝕳𝖎𝖌𝖍𝖜𝖆𝖞 𝕿𝖔 𝕳𝖊𝖑𝖑Where stories live. Discover now