Kapitel 9

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All die Jahre hatte er es sich gewünscht. Sehnlichst. Mehr als alles andere. Aber er hatte das einzig logische getan, hatte seine Gefühle weggesperrt und den Schlüssel weggeworfen. Seit ihrer Schulzeit hatte er angenommen, dass Shota in Oboro verliebt war, und da Hizashi dem nicht im Wege stehen wollte, hatte er seine eigenen Gefühle zurückgesteckt. Selbst nach dem Tod ihres Freundes hatte Yamada es nicht gewagt, irgendetwas in diese Richtung zu versuchen. Aizawa hatte sich abgeschottet und komplett dicht gemacht, da war ohnehin kein Platz für solche Dinge gewesen, da es viel zu schwer gewesen war, auch nur eine normale Freundschaft aufrecht zu erhalten.

Hatte er das Falsche getan, all diese Jahre? Vielleicht hätte es Shota gut getan, wenn er gewusst hätte, dass es jemanden gab, der ihn über alles liebte.

Doch Hizashi war sich unsicher. Was, wenn es doch nur Einbildung war, und Shota eigentlich eine Reflektion von Oboro in diesem Foto anstarrte. Wenn er ihn nicht ebenso liebte wie er ihn. Yamada hatte aufgehört, sich irgendwelche Hoffnungen zu machen. Schon vor sehr langer Zeit. Um seiner eigenen Gefühle willen.

Haare raufend sank er auf dem Bank zusammen und war sich unsicher, was er tun sollte. Natürlich könnte er einen Versuch wagen, aber was, wenn es nicht klappte? Wenn es genauso wirkungslos blieb wie bei Nemuri. Es würde zu sehr wehtun und wäre ihm verdammt peinlich. Wenn er es allerdings nicht versuchte, dann ...

„Hizashi!" Nemuris lauter Schrei riss ihn aus seinen Gedanken und ließ ihn hochfahren. Schwer atmend stand sie bei der Eingangstür und winkte ihm nervös zu. „Irgendwas stimmt nicht mit ihm!", rief sie ihm zu.

Mehr musste er gar nicht hören. Schnell schnappte er sich das Foto und das Album und eilte zurück ins Wohnheim zu seinem Freund. Schon von weitem konnte er sehen, was Midnight meinte. Shota zuckte und schien Fieber zu haben. Seine Wangen glühten rot und Schweiß stand auf seiner Stirn.

„Anscheinend haben wir doch nicht so viel Zeit, wie gehofft", seufzte Toshinori und legte zitternd sein Handy weg. Auch wenn es vermutlich sinnlos war, hatte er gerade Recovery Girl angerufen, damit sie zumindest noch irgendetwas versuchen konnte. Sie durften einfach nicht aufgeben und nichts unversucht lassen.

Panik stieg in Hizashi auf. Sein Freund lag eindeutig im Sterben und er verhielt sich wie ein unsicherer Teenager, der sich seiner Gefühle unklar ist. Was sollte er nur tun? Viel Zeit für eine Entscheidung blieb ihm ja nicht. Was nützte ihm da noch die Angst vor Zurückweisung, wenn es bald niemanden mehr gab, der ihn zurückweisen könnte. Jetzt oder nie.

Während Kayama Eri in den Arm nahm, Toshinori vor der Tür auf und ab schritt und auf Recovery Girl wartete, nahm Yamada allen seinen Mut zusammen und atmete tief ein. Langsam ging er auf Shota zu, der so heftig zitterte, dass Izuku Mühe dabei hatte, ihn ruhig auf dem Sofa zu halten. Gerade als Hizashi ihn bitten wollte, ein bisschen zur Seite zu gehen, schien sich jeder Muskel in Shotas Körper zu verkrampfen, ehe er schlaff zurückfiel und sich nicht mehr rührte.

„Nein ...", keuchte Izuku und begann panisch an Aizawas Schulter zu rütteln, „Sensei!" Doch nichts passierte. Vollkommen bleich taumelte der Grünhaarige zurück und fand sich kurz darauf in Toshinoris Armen wieder, der ihn aufgefangen hatte.

Für Hizashi blieb in diesem Augenblick die Welt stehen. Entsetzt und vollkommen aufgelöst starrte er in das regungslose Gesicht seines besten Freundes, der soeben seinen letzten Atem ausgehaucht hatte. Sofort standen Tränen in seinen Augen. Er war zu spät. Viel zu spät. Mit zitternden Händen umfasste er seine Wangen, die noch leicht warm waren und strich sanft über den Schnitt, der seine linke Wange zierte. „Es tut mir leid", murmelte Hizashi schluchzend. Langsam beugte er sich über ihn. Was hatte er nun schon noch zu verlieren? Es war viel zu spät, um jemals zu erfahren, ob Shota für ihn genauso empfunden hatte all die Jahre, oder ob es doch nur eine einseitige Liebelei gewesen war, die besser weiterhin unter Verschluss geblieben wäre. Er wünschte, dass er sich niemals wieder Gedanken über diese Sache hätte machen müssen. Nun tat es nur noch mehr weh seinen Freund so zu sehen und zu wissen, dass er ihn vielleicht hätte retten können.

Als er seine Lippen auf die des Dunkelhaarigen setzte, schmeckte er seine eigenen salzigen Tränen und fühlte, wie rau Shotas Lippen waren. Hizashi versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, wenn der anderen seinen Kuss erwidern würde. Wie er ihm sagen würde, dass er vollkommen bescheuert war, weil er weinte. Vielleicht würde er ihn auch einfach wüst wegschubsen, weil er anders empfand. Im Grunde genommen wäre es ihm egal, welche Reaktion Aizawa ihm gegenüber nun offenbaren würde, solange er nur darauf reagierte. Aber das würde er nicht. Shota war tot, vor ihren Augen gestorben, weil Hizashi nicht fähig war, sich schneller seiner Gefühle bewusst zu werden und es zumindest zu versuchen ihn zu retten.

Nach einer schieren Ewigkeit löste sich der Blonde von ihm und öffnete die Augen, die er geschlossen hatte. Tränen fielen auf das starre Gesicht des anderen, der nun tatsächlich sehr einer Figur aus einem Märchen ähnelte. Doch anders als in einer Geschichte, würde ihn nichts wieder ins Leben zurückholen. Als diese Erkenntnis über Yamada hereinbrach, begann er laut zu schluchzen und hatte Mühe, seine Macke unter Kontrolle zu halten.

„So schlecht war der Kuss auch nicht", murrte es plötzlich leise unter ihm. Leise seufzend öffnete Shota plötzlich die Augen und sah zu Hizashi auf, der nur noch lauter schluchzte. „Oh mein ... du lebst ... du ...lebst", murmelte der Blonde und konnte dennoch nicht aufhören zu weinen.

Langsam rappelte sich Aizawa auf und stöhnte, fasste sich an den eingebundenen Brustkorb. Kurz darauf fand er sich in einer sanften, aber dennoch sehr stürmischen Umarmung wieder. Gewohnheitsbedingt versteiften sich seine Muskeln sofort, doch als er merkte, wie stark Hizashi zitterte, lockerte er sich etwas und schlang ebenfalls seine Arme um den dünnen Oberkörper seines Freundes, der nun vollkommen aufgelöst in seinen Armen lag.

„Es tut mir so leid ...", murmelte Yamada immer wieder und vergrub sein Gesicht im Brustkorb des Dunkelhaarigen. „Schon gut ... du wusstest es nicht", seufzte Aizawa und drückte ihn an sich. Es war ein seltsames Gefühl. All die Jahre hatte er sich geweigert Yamada zu umarmen, wollte jeglichen Körperkontakt vermeiden, aus Angst, dass er seine wahren Gefühle am Ende nicht mehr verbergen konnte, weil er immer angenommen hatte, Hizashi würde nichts für ihn empfinden. Wenn er gewusst hätte, dass er andere ähnlich fühlte, hätte die Sache natürlich anders ausgesehen. So hatten sie jedoch beide ihre Gefühle voreinander versteckt bis es fast zu spät dafür gewesen war.

„Ich hätte es schon früher versuchen sollen, egal ob es geklappt hätte, oder nicht. Aber ich war mir so verdammt unsicher und hatte Angst ... ich dachte immer ... du und Oboro ...", flüsterte Hizashi leise und vernahm plötzlich ein leises, wenn auch nur kurzes Lachen. „Ehrlich? Ich dachte immer du und er ...", erklärte Aizawa peinlich berührt, brach ab und ließ den Blick sinken.

„Oh, ihr zwei Idioten!", schimpften Nemuri sofort drauf los und schnappte sich eines der Kissen, die auf einem der anderen Sofas lagen, ehe sie damit begann, auf die beiden einzudreschen. „Wehe ihr jagt mir jemals wieder so einen Schrecken ein!" „Au Nemuri ... auuu, lass das!", jammerte Yamada drauf los und versuchte Shota vor den Schlägen zu schützen.

Sleeping BeautyWhere stories live. Discover now