🌽 V. 🌽

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Wir müssen reden, ist geschichtlich gesehen einer der blödsinnigsten Sätze aller Zeiten.

Und doch werfe ich Mattheo genau diesen Schrott an den Kopf, um zu verhindern, dass er etwas sagt, was ich mir wünsche oder fürchte, bevor nicht geklärt wurde, was mir wichtig ist.

»Okay«, ist alles was er erwidert und trottet, ein bisschen wie ein geprügelter Hund neben mir her, nachdem ich den Stand abgeschlossen habe.

Wir gehen schweigend, bis ich vor einer Bank stehen bleibe und setze mich, neben mich klopfend, darauf.

»Komm«, mehr benötigt es nicht, dass er sich schwerfällig neben mich fallen lässt.

Mattheo verschränkt die Arme hinter dem Kopf und sieht mich mit teils resigniertem, teils hoffendem Blick an.

Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, womit ich anfangen soll, deshalb spreche ich den erstbesten Gedanken aus. »Warum mobbst du mich.«


Die Minuten rinnen wie die Ewigkeit davon, ohne dass er eine Erklärung hervorbringt. Stattdessen blickt er mich an, während er mit dem Kiefer mahlt, schluckt, ansetzt, um doch zu schweigen.

Ich bin enttäuscht. Sehr sogar. Ich hatte wirklich gehofft, dass der heutige Tag ein Schritt in die richtige Richtung wäre.

»War eine dumme Idee«, richte ich mich gekränkt auf. Ich werde nach Hause gehen, schlafen und so tun, als ob sich nie etwas verändert hat. So wie es aussieht, sind Mattheo und ich nicht dazu geschaffen, mehr als belanglos zu sein. »Gute Nacht, Mattheo. Die restlichen Tage komme ich ohne dich zurecht. Danke für deine heutige Hilfe.«


Es ist einfach zu gehen. Ein Schritt nach dem anderen. Haben viele Lebewesen schon vor mir vollbracht. Und dennoch fühlt es sich wie Treibsand an. Alles in mir schreit ihn innerlich an, endlich den Mund aufmachen.

»Warte!« Mattheos Hand greift nach meiner, um mich zum Bleiben zu zwingen.

Ein simples Wort, eine simple Geste. Aber tausende Empfindungen die mich binnen eines Sekundenbruchteils alles zugleich fühlen lassen.

»Bleib, bitte.« Seine Worte sind stockend, gar kratzig, aber wohltuend wie Balsam.

So aufgewühlt wie ich war, bin ich nun erstaunlicherweise die Ruhe selbst.

»Warum sollte ich?«, wende ich mich zu ihm um, genauestens seinen auf mich gerichteten Blick analysierend.

»Weil ich es mir wünsche. Weil ich hoffe. Weil ich mich in dich verliebt habe.« Er betrachtet mich zärtlich und ängstlich und bekräftigt damit jedes einzelne Wort.

»Warum?«, es ist nur ein Flüstern voller Unglaube, zu mehr bin ich nicht fähig.

»Weil du Gretchen bist.« Seine Finger spielen mit einer meiner Haarsträhnen. »Du bist klug, hilfsbereit, mit Leidenschaft dabei bei allem, was du anpackst, du lässt dir nichts gefallen, stehst ein, wofür dein Herz schlägt, du bleibst dir und deinen Überzeugungen treu und akzeptierst doch die Meinung anderer. Ich weiß nicht, was ich getan habe, dass du so böse auf mich bist, dass du mir sogar Mobbing vorwirfst. Ich weiß nur, dass ich es nicht ertrage, wenn du gehst, ohne zu wissen, was ich schon eine kleine Ewigkeit für dich fühle.«

»Du weißt nicht...«, beginne ich irritiert. Forschend suche ich in seinen Augen nach Anhaltspunkten einer Lüge. »Fischgrätchen. Leichtes Mädchen. Anne, die Teekanne. Annegret ist Analphabet. Soll ich weiter machen, oder kommt die Erinnerung zurück, welche Nettigkeiten du in Umlauf gebracht hast?« Mattheos Augen weiten sich ungläubig, als höre er die Begrifflichkeiten zum aller ersten Mal. Dabei bin ich mir sicher, dass er der Ursprung der Gehässigkeiten ist. »Streitest du es ab?«

»Ja.«

»Was?!«

»Ich streite es ab.«

Ich zerre hastig an meinem Arm, um mich aus seinem Griff zu befreien - wie so oft in den letzten Tagen.

»Du bist das Allerletzte, Mattheo. Wie kannst du von Liebe sprechen und gleichzeitig behaupten, es nicht getan zu haben? Was für ein scheiß Spiel du auch hier abziehst, ich mach da nicht mit. Und jetzt lass mich los.«

»Nein, das werde ich ganz bestimmt nicht! Was immer du denkst, ich war es nicht.« So sehr ich versuche von ihm wegzukommen, zieht er mich unerbittlich näher. »Ich habe niemals derartiges über dich erzählt oder verbreitet. Verdammt noch mal, Gretchen. Ich laufe dir seit dem ersten Tag, als ich dir begegnet bin, nach.« Frustriert schnaufend legt er beide Hände an meine Wangen und durchdringt bittend meinen tränenfeuchten Blick. »Sei ehrlich zu dir selbst. Hast du jemals persönlich von mir gehört, dass ich auch nur eines dieser Worte ausgesprochen habe? Habe ich dich irgendwann willentlich verletzt?«

»Nein.« Wenn ich behaupte, ich fühle mich wie auf einem Kettenkarussell und fahre zugleich Achterbahn, würde es meine Empfindungen nicht mal annähernd beschreiben. Habe ich ihm all die Jahre Unrecht getan? Kann ich seinen Worten Glauben schenken? Dass er mich liebt? Mich, das Pummelchen?

»Nein, hast du nicht«, flüstere ich.

»Warum verdammt nochmal glaubst du dann so einen Scheiß? Warum schluckst du all die Jahre an Demütigungen herunter? Warum konfrontierst du mich erst jetzt damit? Fuck!«

Und dann passiert genau das, wovon ich schon so lange träume.

Mattheos Lippen auf meinen.


Wenn man denkt, ich höre jetzt die Engelchen singen, weil ich auf Wolke sieben schwebe und mein Fuß flippt ganz romantisch nach oben, dann werden jegliche Erwartungen enttäuschen.

Denn dazu ist unser Kuss zu intensiv. Zu einmalig. Zu berauschend. Zu viel und doch zu wenig.

Der Kuss ist nicht sanft, er ist hart, unnachgiebig. Steckt voller angestauter Frustration und Zweifel. Und gleichzeitig spricht er auch von Liebe und Zuneigung. Von Innigkeit, von Scherzen, Streitereien und Versöhnung.

Von Zukunft.◾️

✔ | HerbstLiebeWhere stories live. Discover now