1.16. Der Zauberstein (I)

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Heinrich bangte um das Leben seiner Getreuen. Nach wie vor versuchten der Medicus und der Priestergehilfe alles Erdenkliche, um Hugo und Andreas ins Bewusstsein zurückzuholen. Die Nachricht Maries, die gerade vor ein paar Augenblicken im Zimmer gewesen war, hatte er nur am Rande wahrgenommen. Er hatte lediglich die Hand zum Dank für die Mitteilung erhoben, ohne seinen Blick aber von den beiden Rittern zu nehmen. Irgendwo in seinem Inneren freute er sich wohl darüber, dass es den Golddorfern besser ging, denn nichts hatte ihm jetzt noch mehr gefehlt, als dem Golddorfer Grafen zu erklären, dass einige seiner besten Männer zwar bis nach Bernstein gekommen waren, aber dann ausgerechnet hier in seinem Beisein verstorben seien. Wenigstens dieser Kelch war an ihm vorübergezogen.

Marie war klug genug gewesen, das Zimmer sofort wieder zu verlassen. Auch sie hatte sofort die Situation erkannt und wusste, dass jede weitere Person in dem kleinen Raum jetzt nur hinderlich wäre. Abgesehen davon waren ja noch ihre beiden Mägde Sarah und Gerda im Zimmer. Die beiden würden dem Medicus gut helfen können.

Heinrich begann auf und ab zu gehen. Schon mehrmals hatte er sich ermahnen müssen, den Medicus nicht zu fragen, ob er Erfolg haben würde. Er fürchtete sich vor der Antwort.
Er hatte auch nur vage mitbekommen, dass der Priester gegangen war. Heinrich hatte sich zunächst gewundert, vermutete aber, dass der Glaubensvorsteher von Gesken das Heilige Öl von Ficentia holen wollte, um seinen beiden Rittern die letzte Segnung erteilen zu können.

Der Graf erschauderte darüber, hatte er diese Handlung in den letzten Tagen doch zu oft sehen müssen und wollte dies nicht unbedingt auch noch hier auf seinem eigenen Gut erleben.
Er blieb stehen und strich sich mit einer müden Geste gerade erneut über das Gesicht, als der Priester forschen Schrittes das Zimmer wieder betrat. Mit seiner rechten Hand umfasste er eine kurze Schnur, an der ein kleiner Lederbeutel hing. Sobald Heinrich ihn bemerkte, bat Gerach ihn mit einer Geste zu sich heran.

Heinrich trat zögernd auf ihn zu und Gerach ging mit dem Grafen in eine Ecke des Zimmers. Scheinbar wollte der Priester etwas diskret mit ihm besprechen.
Er sah Gerach fragend an. Dieser holte daraufhin langsam und mit feierlicher Miene einen Stein aus dem Beutel. Heinrich erkannte sofort, dass es ein Zauberstein war, obwohl er noch nie einen so dicht aus der Nähe gesehen hatte. Aber das helle, fast weiße Gestein, welches es nur im Heiligen Königreich gab, ließ keinen Zweifel zu.

Er starrte den Stein unverwandt an. Etwa in der Mitte war ein seltsames Symbol eingraviert, dass er nach kurzem Überlegen erkannte.
Er war nicht überrascht. Es war das Zeichen des heilenden Wassers. Damit könnte man den beiden Rittern mehr als helfen, aber diese Art von Zauberstein war auch der teuerste von allen.

Heinrich sah langsam vom Stein auf und schaute Gerach durchdringend an. Dieser sagte kein Wort, sondern hielt ihm den Stein mit einer verhaltenen Geste hin.
Mit ernster Miene und trübem Blick sagte Heinrich: „Den kann ich mir nicht leisten." Es war eine Feststellung, die er ungern von sich gab. Gerach bemerkte den beschämten Unterton.
„Das spielt jetzt keine Rolle", antwortete er dem Grafen, der ihn daraufhin fast ungläubig ansah. „Lasst mir das Geld einfach später zukommen, wenn Ihr soweit seid."

Heinrich war halb erstaunt, halb ungläubig über das, was er gerade gehört hatte. Ein Wasserzauberstein kostete ganze 12 Gulden und bisher hatte er noch von keinem Priester gehört, der den Betrag nicht sofort sehen wollte.
Nachdem er das Gehörte verdaut hatte, ergriff er die ihm dargebotene Chance: „Ich werde Euch das Geld so schnell wie möglich erstatten", sagte er mit festerer Stimme. Er nahm Gerach den Stein ab, ohne den Blick von ihm abzuwenden.

Der Priester nickte ihm schwerfällig zu und erst jetzt fiel Heinrich auf, dass sein Gegenüber keineswegs bereitwillig dieses Opfer erbracht hatte. Es war Gerach anzusehen, dass ihm seine Hilfsbereitschaft Überwindung gekostet hatte. Schließlich verstieß er damit gegen die Handelsmaxime der harmonischen Glaubensgemeinschaft. Umso mehr wusste Heinrich seine Tat zu schätzen. Er hätte nicht gedacht dazu fähig zu sein, so etwas wie Dankbarkeit für einen Priester Harmons zu empfinden, aber in diesem Moment konnte er sich dieses Gefühls nicht erwehren.

Mit dem Stein in der Hand drehte er sich zu dem Bett um und sagte zu den Anderen: „Dies hier wird helfen." Sie schauten ihn alle an und ihre Mienen gerieten ins Staunen, als Heinrich den Zauberstein vorzeigte.
Der Medicus verstand sofort. „Jaa – das ist natürlich das Beste", sagte er unendlich erleichtert, da er gerade dem Grafen kleinlaut mitteilen wollte, dass man nichts mehr tun könne. Zu Albrecht gewandt, sagte er dann: „Also dann mein Junge, wir werden hier nicht mehr gebraucht. Hab aber vielen Dank für deine Hilfe."

Albrecht hörte die Worte des Medicus nicht. Fassungslos starrte er den Stein an, den der Graf in der Hand hielt. Wie konnte der Graf sich den leisten? Albrecht war zwar grob, aber nicht dumm, daher wusste er genau, dass sich Heinrich angesichts des verlorenen Feldzuges keineswegs eine solche Hilfe erkaufen konnte.
Er sah erst den Grafen, dann Gerach ungläubig an, der warnend mit dem Kopf schüttelte. Er hatte bemerkt, dass Albrecht bereits ahnte, dass der Graf den Zauberstein unrechtmäßig erhalten hat. Nach der harmonischen Glaubenslehre bedeutete unrechtmäßig schlicht und ergreifend „aufgrund fehlender Opferleistung" – also, wenn man für den Stein nicht bezahlt hatte.

Gerach bedeutete seinem Zögling mit einer Geste zu ihm zu kommen. Auch der Medicus wunderte sich über Albrechts Benehmen. „Junge, hat es dir die Sprache verschlagen?", fragte der Heilkundige, „so hart hab' ich dich doch gar nicht rangenommen."
Das riss Albrecht aus seiner Trance. Er sah den Medicus kurz an, stammelte etwas Entschuldigendes und erhob sich dann langsam.

„Dann räumt nun das Bett", sagte Heinrich ruhig und bedächtig, „damit ich den Stein einsetzen kann." Der Medicus nickte und trat vom Bett zurück, Albrecht folgte seinem Beispiel, blieb aber nicht an der Wand stehen, sondern eilte an die Seite seines Herrn, nicht ohne diesen deutlich verärgert anzusehen.
Gerach stand hinter dem Grafen und nahm Albrecht sofort mit dem Arm an seine Seite, einerseits damit er nicht den Grafen stören konnte, andererseits in der Hoffnung, seine Unruhe etwas besänftigen zu können. Er nickte ihm nochmals beruhigend zu, so als wollte er sagen, dass das alles schon in Ordnung geht.
Auch die Mägde, die bisher ebenfalls wie gebannt die ganze Zeit auf den Zauberstein gestarrt hatten, machten nun auf beiden Seiten Platz. Eine von ihnen fragte den Grafen mit brüchiger Stimme: „Sollen wir das Zimmer verlassen, Herr?", worauf Heinrich nur kurz den Kopf schüttelte. Er wusste ja, dass von den Anwesenden bisher kaum einer einen echten Zauber gesehen hatte, daher wollte er ihnen dieses Schauspiel ruhig gönnen. 

Das Geheimnis von AllerlandenWhere stories live. Discover now