Kapiel Eins - Der weisse Rabe

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And all I loved,
I loved alone
-Edgar Allan Poe-


Grosse Schneeflocken rieselten lautlos auf die Häuser und Gärten in der Barkley Street hinab.

Obwohl es bereits weit nach Mitternacht war, sass ein kleiner Junge, im Schneidersitz und mit dem Kinn auf seinen kleinen Händchen ruhend, auf einer Fensterbank und starrte hinaus.

Wer dieses Kind genau jetzt zum ersten Mal sehen würde, wäre umgehend von ihm entzückt gewesen.

Über seinem blassen Gesicht hatte er wuschelige, hellbraune Haare, von langen Wimpern umkranzte, honigfarbene Augen und das engelsgleichste Gesichtchen, dass man sich vorstellen konnte.

Doch manchmal können erste Eindrücke täuschen.

Wenn man sein tatsächliches Alter von acht Jahren wusste, bemerkte man sofort, dass etwas mit diesem Kind nicht stimmen konnte. Durch seine kleine, dürre Statur wirkte er nicht älter als fünf. Hätte er die Ärmel seines abgetragenen Pullovers nach oben gefaltet, würde man die vielen Kratzer und blauen Flecken darauf sehen. Auch wenn er viel jünger aussah als seine Grösse vermuten liess, waren es doch seine Augen, die seinem wahren Alter besser entsprachen.

Unaufmerksame Menschen würden sie als emotionslos bezeichnen. Doch bei genauerer Betrachtung sah man, dass sie sogar vor starken Emotionen nur so überkochten. Traurigkeit, Einsamkeit, Verwundbarkeit, Wut, Hass.....

Es waren die Augen eines alten, verbitterten Mannes, der genug von der Welt gesehen hatte um zu wissen, wie verdorben sie in Wirklichkeit war.
Wenn diese Augen wollten, konnten sie seinem Gegenüber mit nur einem Blick das Gefühl geben, in deren eigene, verrottete Seele zu blicken. Sie konnten einem innerlich zu Eis erstarren lassen. Sie konnten sich in die furchtbarsten Albträume schleichen und einen nächtelang wach halten.

Das alles konnten sie. Aber was sie nicht konnten war, wahre Freude, Glück oder Liebe auszudrücken. Diese Gefühle wurden schon früh aus ihnen herausgeprügelt.

Genau mit diesen Augen blickte er starr auf das Dach des gegenüberliegenden Hauses. Oder besser gesagt, auf das ungewöhnliche Tier, dass sich dieses Hausdach schon seit mehreren Wochen als Lieblingsplatz auserwählt hatte.

Es war ein Rabe, mit solch einem schneeweissen Gefieder, dass er in dem ganzen Schnee unsichtbar gewesen wäre, würde nicht in dieser Nacht ein brillanter Vollmond jeden Winkel der Strasse erleuchten.

Der Rabe war zwar etwas weit weg, aber trotzdem war sich der kleine Junge sicher, dass seine blutroten Augen ihn genau so starr musterten, wie er ihn.
Er wusste nicht wieso, aber anstatt von dem seltsamen Verhalten des Tieres eingeschüchtert zu sein, fand er eher etwas, was er noch nie zuvor erfahren hatte.

Trost.

Wenigstens sieht mich jemand.....

Und mit diesem Gedanken des Jungen, schwang sich der weisse Rabe majestätisch vom Dach und flog in den Schnee hinaus.

Der kleine Junge sah dem Raben mit sehnsüchtigem Blick hinterher, bis er hinter den Baumreihen des Waldes verschwunden war und stieg vorsichtig von seinem Fensterbrett hinunter.

Als er auf seiner viel zu dünnen Matratze lag, war sein letzter Gedanke:

Irgendwann werde auch ich frei sein.

Archibald Babbage (Deutsch)Where stories live. Discover now