Kapitel Zwei - Die Perkins

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I became insane
with long intervals of horrible sanity
-Edgar Allan Poe-

2 Jahre später

Manchmal wünschte sich Archibald, wieder zurück im Waisenhaus zu sein.

Eigentlich war seine neue Adoptivfamilie ganz nett. Archie's Meinung nach fast schon zu nett. Er konnte nicht anders, als der ganzen Sache mit Argwohn zu begegnen.

Noch nie war jemand einfach so nett zu ihm gewesen. Nur wenn sie etwas von ihm wollten. Und da er selber nicht viel geben konnte, was für andere von Interesse war, konnte er an nur einer seiner kleinen Händen abzählen, wie of jemand freundlich zu ihm war.

Aber die Familie Perkins schien keine Gegenleistung von ihm zu erwarten. Immerzu wurde er angelächelt, selbst wenn er nur ausdruckslos am Esstisch sass. Oder er wurde mit zu Ausflügen genommen, selbst wenn es keinen besonderen Anlass dafür gab. Solche Dinge verwirrten und entnervten den kleinen Archie nur noch mehr, der immer verzweifelter herauszufinden versuchte, was diese Familie im Schilde führte.

Wieso hatten sie ihn überhaupt adoptiert? Sie hatten ja schon zwei Kinder.
Naja, immerhin bekam er immer drei Mal am Tag genug zu Essen und manchmal sogar noch etwas Süsses.
Seit dem ersten Tag hier, hatte er nicht ein einziges Mal Hunger gehabt, und das war dass einzige, für die er den Perkins wirklich dankbar war.

Archies neue Bilderbuchfamilie bestand aus dem Familienoberhaupt Dorset und seiner Ehefrau Rosie. Da er ein erfolgreicher Architekt war, konnte Rosie es sich erlauben zu Hause zu bleiben und sich um Haus und Kinder zu kümmern.

Ganz zu Archibalds Ärger, denn sie hatte es sich anscheinend zur Lebensaufgabe gemacht, sich mit ihrem neuen Adoptivsohn anzufreunden und ihn dazu zu bringen, mehr Zeit mit seinen neuen Schwestern zu verbringen.

Jeder, der Ivy und Blossom jemals kennen gelernt hatte, bezeichnete sie als die reizendsten und wohlerzogensten Mädchen. Archie fand, dass es die nervtötendsten Gören waren, die er je das Unglück gehabt hatte, kennen lernen zu müssen.

Auch sie waren trügerisch nett zu ihm, aber sie redeten so viel, dass Archie sich bald fragte ob es unethisch wäre, ihnen mit einem Faden die Lippen zuzunähen.

Trotz all seines Frustes bemühte Archie sich, sich äusserlich nichts anmerken zu lassen. Er mimte den schüchternen kleinen Jungen, der immer brav sein Gemüse aufass und schweigend mit seinen Schwestern draussen im Garten spielte.

"Archie, du weisst schon dass wenn dir jemand den Ball zuwirft, du ihn auch zurück werfen solltest, oder?", kicherte Ivy.

Archie schaffte es gerade so, seine Augen nicht zu verdrehen.

Es war ein angenehmer Frühlingstag gewesen. Jedenfalls so lange, bis sie ihre Hausaufgaben fertig gemacht hatten. Danach schickte Mrs. Perkins sie hinaus in den Garten, während sie sich um Haushalt und Abendessen kümmerte.

Das war vor 3 Stunden. Seit schmerzhaften 3 Stunden stand er mit diesen Monstern im Dreck und liess sich beibringen, wie "normale" Kinder spielten. Also wenn normal zu sein bedeutete, zu sein wie Ivy und Blossom, dann konnte er dankend darauf verzichten.

Er nickte ihr nur kurz zu, bevor er den roten Ball in die Hände nahm und ihn ihr sanft entgegen warf. Zumindest hatte er vor, ihn sanft zu werfen. Stattdessen kam er mit einer solchen Wucht auf Ivy zugeflogen, dass sie ungeschickt nach hinten stolperte und auf ihrem Allerwertesten landete.

Während sie sich peinlich berührt wieder aufrichtete, gefolgt von Blossoms Gelächter, funkelte sie Archibald zornig an.

"Ich sagte, wirf ihn rüber und nicht, wirf ihn mir mit voller Wucht ins Gesicht".

"Mit voller Wucht?", dachte er während seine Brauen einwenige nach oben huschten.

"Ist ja auch egal, ich spiele sowieso nicht gerne mit dem Ball. Wie wäre es, wenn wir uns einen eigenen Blumengarten anlegen würden?", sagte sie mit einem Strahlen in den Augen.

"Kinder, kommt herein, das Essen ist fertig!", rief Mrs. Perkins durch das offene Küchenfenster.

"Perfekt, dann können wir Mama gleich fragen, wo wir unser Beet anlegen können!", sagte Blossom aufgeregt, während sie ihrer grossen Schwester ins Haus folgte.

Archibald blieb einpaar Sekunden zurück und rang mit sich selber, ob es nicht vielleicht doch eine bessere Idee wäre von hier abzuhauen und auf der Strasse sein Glück zu versuchen.

Gerade als er die Pros. und Cons. in seinem Kopf durchging, kam Ivy wieder zurück, packte ihn lachend am Handgelenk und sagte:

"Ja, ich kann es auch kaum erwarten, mit dem Beet anzufangen, aber wir müssen trotzdem noch vorher etwas essen, ja?"

"Oh Gott, steh mir bei!"

"Na Archie, hattest du heute einen schönen Tag mit deinen Schwestern im Garten?"

Warum konnten sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Der ganze Tag war schon die reinste Tortur gewesen. Mrs. Perkins fand es eine ganz wunderbare Idee, dass die Kinder ihre eigenen Blume aufziehen wollten und überliess ihnen in einer Ecke des Gartens eines ihrer eigenen Beete. Heute mussten sie so lange Erde umwühlen und auflockern, bis sie den ganzen Dreck aus ihren Unterhosenherausschütteln mussten. Morgen würden sie nach der Schule die Blumensamen kaufen gehen. So wie Archie diese Familie kennen gelernt hatte, würde selbst so etwas banales zu einem ausgedehnten Familienausflug mit Anschliessendem Eis essen und Streichelzoo ausarten. Es war zum Haareraufen.

"Gut", antwortete er leise und hatte sich noch nie in seinem ganzen Leben so sehr als  Lügner gefühlt wie in diesem Augenblick.

Mrs. Perkins schien sich nicht an seiner eher kühlen Antwort zu stören. Schliesslich lebte Archie nun schon seit über zwei Monaten bei ihnen und sie wusste, dass er eben ein sehr schüchterner, kleiner Junge war.

"Und sobald ihr morgen aus der Schule zurück seit, gehen wir alles einkaufen, was ihr für euren hübschen Garten braucht und wer weiss, vielleicht reicht die Zeit ja auch, im Streichelzoo ein Eis essen zu gehen?", sagte sie mit einem Augenzwinkern und deckte Archie mit der kuscheligen Bettdecke zu.

"Ja, warum nicht gleich beides miteinander kombinieren?"

"Gute Nacht, Archie", sagte Mrs. Perkin und lehnte sich zu ihm hinunter. Doch bevor sie ihm ein Küsschen auf die Stirn drücken konnte, drehte er sich um und schloss die Augen.

Sie nahm es ihm nicht übel. So war er nun einmal, der kleine Archie Babbage.

Archibald Babbage (Deutsch)Where stories live. Discover now