Kapitel Drei - Der wahre Archibald Babbage

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Everyone sees what you appear to be,
few experience what you really are
-Niccolò Machiavelli-

"Dein neuer Bruder ist echt eigenartig. Ist er zu Hause auch so?", fragte Lilianne ihre beste Freundin, ohne ihre Augen von Archie abzuwenden, der gerade seelenruhig eine Seite in seinem Buch umblätterte.

Die beiden Freundinnen malten mit Kreide auf den Boden des Pausenplatzes.

"Ich weiss nicht was du meinst, er ist doch ganz nett", entgegnete Ivy, blickte aber trotzdem nachdenklich in Archies Richtung.

Er hatte es sich, wie immer, alleine unter der grossen Eiche gemütlich gemacht und schien nichts mehr um sich herum wahr zu nehmen.

"Ach komm' schon, du weisst ganz genau was ich meine. Selbst du kannst nicht behaupten, dass er sich ganz normal verhält. Zuerst dachte ich, dass wäre weil er noch neu in eurer Familie und auf dieser Schule ist. Aber das war vor fast drei Monaten! Und sieh ihn dir an. Er spricht zu niemandem und will mit keinem hier Freundschaft schliessen", sagte Lilianne und bliess ihre Backen auf.

"Jetzt verstehe ich, du bist immer noch sauer, dass Archie dein Freundschaftsangebot ausgeschlagen hat", lachte Ivy und setzte zu den letzten Handgriffen an ihrem Meisterwerk an.

Es war ein wunderschöner Kolibri mit einem prächtigen Gefieder in blau-und grüntönen. Am Hals hatte er einen orangenen Streifen. Mit seinem langen, dünnen Schnabel trank er den Nektar einer kanllroten Blume.

Lilianne nahm sich einen kurzen Moment, um das künstlerische Talent ihrer Freundin zu bewundern, ehe sie entrüstet ebtgegnete:

"Das ist doch überhaupt nicht wahr. Er ist mir egal. Wäre er nicht dein Bruder, würde er mich sogar noch viel weniger interessieren!"

"Und trotzdem kannst du nicht aufhören ihn anzustarren. Wie wäre es, wenn wir noch deinen Schmetterling fertig malen würden, bevor wir wieder zurück in die Klasse müssen. Dort kannst du Archie in aller Ruhe weiter anhimmeln."

Lilianne war empört. Als würde sie so einen Spinner toll finden, der nichts anderes tat als zu lesen? Ja, sie gab zu dass Archie ein wirklich hübscher Junge war, selbst wenn er etwas klein und dürr geraten war. Und ja, sie hatte noch nie schönere Augen gesehen, als seine. Sie sahen so aus, wie flüssiges Gold. Und möglicherweise mochte sie, wie seine Haare ihm ins Gesicht fielen, wenn er sich wieder einmal über eines seiner geliebten Bücher lehnte. Aber das hiess noch lange nicht, dass sie ihn mochte. Ganz und gar nicht!

"Ich himmle ihn nicht an. Wenn du mir zugehört hättest, wüsstest du, dass ich sogar das genaue Gegenteil gesagt habe. Wieso tun du und Blossom so, als wäre alles mit ihm in Ordnung? Alleine schon wie er sich anzieht! Es ist heute richtig warm, sogar du Frostbeule hast ein kurzarmiges Shirt an, aber er hat sich seine Ärmel bis über die Hände gezogen, als hätte er kalt. Willst du mir sagen, dass das ganz normales Jungenverhalten ist?"

Ivy wusste wieso.....




Vor 2 Wochen, am Sonntagnachmittag

"Mama, kann ich gleich zu Archie und ihm den Efeu zeigen, den wir vorhin gekauft haben?", fragte Ivy ihre Mutter, kaum hatten sie den Wagen in der Garage parkiert.

Ihre Eltern lachten auf.

"Natürlich, mein Schatz. Es ist wirklich schade, dass er nicht mitgekommen ist. Aber ich bin richtig stolz auf ihn, dass er sich so viel Mühe mit seinen Hausaufgaben gibt. Blossom, mein Liebling, kannst du gleich die Eiscrème ins Gefrierfach stellen? Archie wird sich bestimmt darüber freuen, dass er trotzdem noch sein Erdbeereis bekommt", sagte Rosie und begann damit, zusammen mit ihrem Ehemann, die restlichen Pflanzen in den Garten zu tragen.

Während Blossom stirnrunzelnd Archies Eisbecher in die Küche trug, kam sie nicht umhin sich zu fragen, wieso Mama immer darauf bestand, ihm ein Erdbeereis zu kaufen. Von dem was sie sah, mochte Archie kein Erdbeereis.

Ivy hingegen lief flink wie ein Wiesel die Treppe zu Archies Zimmer hinauf, den Efeu fest an ihre Brust gedrückt.

Archie mochte Efeu, da war sie sich sicher. Sie hatte beobachtet, wie er einmal mehrere Minuten die Fassade eines Efeubewachsenen Hauses anstarrte, welches sich auf der anderen Seite der Stadt befand. Er würde sich bestimmt darüber freuen!

Grinsend und etwas schwer atmend stand sie vor seiner Zimmertür und stiess beschwingt die Tür auf. In ihrer ganzen Euphorie, hatte sie ganz vergessen, wie viel Wert Archie auf's Anklopfen legte und sah gerade noch, wie er vor lauter Schreck mit dem Kopf gegen seine offene Schranktür stiess.

Er war gerade dabei, sein Shirt zu wechseln, so dass sich Ivy betroffen abwenden wollte, aber dann sah sie es.

Es geschah alles in wenigen Sekunden, aber sie sah es so deutlich, dass sie sicher war, sich bis an ihr Lebensende an jede Einzelheit erinnern zu können.
Er sah noch dünner aus, als sie es sich gedacht hatte, jede einzelne Rippe stach deutlich hervor. Am ganzen Oberkörper bis hinunter, an seinen Armen, hatte er viele kleinere und grössere Narben. Einige sahen schon recht alt und fast ganz verheilt aus während andere sich noch deutlich wulstig von seiner blassen Haut abhoben.

Für den Bruchteil einer Sekunde stand Archie wie ein Reh im Scheinwerferlicht vor ihr, bevor sich seine ganze Haltung veränderte.

Das sollte das erste Mal sein, dass sie den wahren Archibald Babbage kennenlernen sollte.

Sie haderte kurz mit sich, ob sie ihn auf seine Verfassung ansprechen sollte, als sie in seine Augen sah.

Die sonst so honigartige Farbe war einem wilden, stechenden Gelb gewichen. So eine Farbe hatte sie noch nie an einem Menschen gesehen.

"Raus"

Obwohl er dieses einzige Wort nur leise flüsterte, konnte Ivy dennoch die Eiseskälte in seiner Stimme praktisch körperlich spüren.
Wortlos packte sie nach dem Türgriff, den Efeu schon längst vergessen, und machte hinter sich zu.









"Komm schon, wir müssen zurück in den Unterricht, bevor wir schon wieder Ärger fürs Zuspätkommen kriegen."

Ohne ihrer Freundin noch eine Gelegenheit zu geben, weiter zu diskutieren, sammelte Ivy die Kreide vom Boden, packte alles in die Box und lief schnurstracks zurück in die Schule.

Lilianne folge ihr kopfschüttelnd.

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⏰ Last updated: Dec 02, 2020 ⏰

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Archibald Babbage (Deutsch)Where stories live. Discover now