Kapitel 20 ~ Erklärung

63 4 2
                                    

Geistesabwesend rührt Aurea durch ihre Suppe. Der Dampf ist längst verschwunden und ihr kommt es so vor, als werde ihr Essen immer dünnflüssiger. Von allen Seiten ertönen lebhafte Gespräche, Schlürfgeräusche und das Klappern von Besteck. Heute kommt es ihr besonders laut vor, aber es stört sie nicht. In ihren Gedanken ordnet sie das, was sie den Anderen über ihre zurückgewonnenen Erinnerungen erzählen möchte.

„Hast du keinen Hunger?", fragt San nach und stupst sie mit seiner rechten Schulter an. Aurea zuckt mit den Schultern und beobachtet, wie die einzelnen Tropfen Wellen schlagen, welche sie von ihrem Löffel hinunter träufeln lässt. Aus dem Augenwinkel sieht sie Sans strengen Blick, den er ihr mit zusammengezogenen Augenbrauen zuwirft. Schnell nimmt sie einen halbvollen Löffel und murmelt, bevor sie hinunter geschluckt hat: „Doch".

San gibt ein Seufzen von sich und er schüttelt unauffällig den Kopf. Er wendet sich ab, nimmt einen Schluck seines Getränks und schweigt. Ein paar Mal sieht Aurea verstohlen hinüber, während sie weiter isst, um sicherzugehen, dass San sie wirklich nicht mehr beachtet. Sie ist darauf bedacht, ihren Teller nicht zu schnell zu leeren, damit niemand ihr eine weitere Portion aufdrängen kann.

„Was beschäftigt dich?" Die plötzliche Anmerkung lässt Aurea zusammenzucken. Sans Lippen befinden sich direkt neben ihrem Ohr und nur sie kann seine Worte hören, genau wie seinen Atem, der sanft ihre Haut wärmt. Aurea entfernt sich, bis sie die Wärme nicht mehr spürt und dreht ihren Kopf zu San, damit sie in seine Augen schauen kann. Sie weiß nicht, was sie antworten soll. Sie weiß auch nicht, was sie der ganzen Gruppe erzählen soll. In ihrem Kopf ergibt alles Sinn. Ob ihre Worte ihren Gedanken gleichkommen, bereitet ihr Sorge.

Am liebsten möchte sie schweigen und erst dann reden, wenn sie sich wirklich sicher ist. Am liebsten würde sie sich alles aufschreiben, was wichtig ist, und erst dann reden. Ihr geht so unglaublich viel durch den Kopf, das sie San sagen möchte. Er könnte ihr zuhören, er würde ihr zuhören. Er wäre eine riesige Hilfe beim Ordnen ihrer Gedanken. Aurea möchte sowieso warten, bis niemand mehr isst. Solange könnte sie San erzählen, was sie erkannt hat, was sie beschäftigt. Er wird ihr helfen, das, was sie sagen möchte, in eine geordnete Reihenfolge zu bringen.

Sie setzt zum Reden an, hat sich schon die ersten Worte zurechtgelegt. Dann versagt ihr Verstand. „Weiß nicht", hört Aurea sich selbst nuscheln.

San verengt seine Augen irritiert. Er bringt zum Ausdruck, was auch Aurea fühlt. Ihr Kopf ist plötzlich leer, nicht an einen Gedanken kann sie sich erinnern. Hilfesuchend hält sie seinem Blick stand. Sie kann nicht wegsehen, als könne sie die Lösung in seinen Augen finden. 

Wieso versteht er nicht, dass sie sich ihm anvertrauen wollte? San sieht zum ersten Mal verständnislos aus. Er muss sie verstehen! Mehrfach setzt Aurea zum Sprechen an, doch jedes Mal setzt ihr Kopf aus.

Wenn sie es San nicht erzählen kann, wie soll sie es schaffen, wenn alle ihr zuhören?

„Bitte warte", wispert sie, „ich kann nicht." Es fühlt sich an, als müsse sie ihre Muttersprache neu lernen. „Ich habe keine Sätze." Sie wird von ihrem eigenen Verstand im Stich gelassen und erniedrigt. Jämmerlich, so kommt sie sich vor.

San weitet seine Augen. Durch einem Nicken bestärkt er sein Verständnis. Mit seinem Oberarm lehnt er sich an ihre Schulter und umfasst mit seiner rechten Hand, welche zuvor seinen Löffel hielt, ihre linke. „Ich werde mich bemühen, dich zu verstehen. Versprochen."

Allmählich wird Aurea warm und ihre Gedanken kommen zurück. Sie fühlt sich besser, wenn auch nicht vollkommen sicher. Zumindest sind die Worte, die sie loswerden möchte, nun lauter als ihre Sorgen, die sie davon abhalten möchten.

Durch ein Räuspern wird ihre Aufmerksamkeit von San weggelenkt. Unwillig entfernt Aurea ihren Blick von ihm, der regelrecht auf ihm klebte. Das Räuspern kam von Hongjoong. Niemand isst mehr. „Aurea hat sich an etwas erinnert, das uns helfen kann", kündigt der Anführer an.

Jetzt räuspert sie sich. „Sternbilder können für die Heilung von Todkranken verwendet werden, wenn nichts anderes mehr hilft", beginnt sie. „Caomhán Ardent kam zu uns, um Mama auf diese Art das Leben zu retten."

Alle schweigen und warten darauf, dass Aurea weiterspricht. „Man überträgt Lebensjahre von einem Gesunden auf den Kranken. Caomhán wählte dafür mich, aber Mama weigerte sich." Sie betrachtet den Holztisch und fährt mit ihrem rechten Zeigefinger seine Struktur nach.

„Aber ich denke, er hat ihre Entscheidung missachtet", fährt sie fort und blickt in der Runde herum. Die meisten haben ihre Augen auf Aurea gerichtet. „Papa erzählte mir immer, dass Mama mehrere Jahre lang krank war. Als ich fünf war, starb sie. Aber ich bin mir absolut sicher, dass sie noch gesund war, als ich vier war. Außerdem soll sie am Schluss wieder gesund gewesen sein."

Aurea schaut zu Freya hinüber, welche ihr schräg gegenüber sitzt. Sie schüttelt ungläubig den Kopf, während sie in die Ferne sieht und hält sich an Seonghwa fest. Sein Kopf liegt auf ihrem und er betrachtet Aurea mit einem besorgten Gesichtsausdruck.

„Ich bin davon überzeugt davon, dass Caomhán seinen eigentlichen Plan vollzogen hat", bestärkt Aurea ihre Aussage, „es gibt keine andere Erklärung für meine fehlenden Erinnerungen und Mamas Heilung."

Neben ihr summt Wooyoung zustimmend. Das wird zum Auslöser für aufgewühltes Gemurmel und bricht somit das Stillschweigen ihrer Zuhörer.

Nachdem sie es ausgesprochen hat, fragt Aurea sich zum ersten Mal, wie alt sie wohl wäre, wenn Caomhán auf ihre Mutter gehört hätte. Wie viel hat sie in all dieser Zeit wohl gelernt? Was wusste sie? Worin war sie gut? Was lag ihr nicht?

War sie vielleicht ein ganz anderer Mensch?

„Meliana, was sollst du damit zu tun haben?", fragt Ebony und dreht sich nach rechts zu ihrer Freundin. Diese versteckt ihr Gesicht hinter ihren blauen Haaren und macht den Anschein, als hätte sie nichts gehört. Ebony spricht sie noch einmal an, dieses Mal angespannter, und rüttelt an ihrer Schulter. Je länger Meliana schweigt, desto ungeduldiger wird sie.

„Ich kam zweieinhalb Monate zu früh auf die Welt und meine Lebenschancen wurden mit jedem Tag, der nach meiner Geburt verging, geringer. Caomhán als ein befreundeter Magier entwickelte diese Heilungsmethode", erzählt Meliana, während sie aufsteht. 

„Er, Firthri, Iuven und Mutter ließen mir insgesamt fünfundzwanzig Lebensjahre zukommen." Sie verweilt am Fuß der Treppe, ohne den Rest der Gruppe eines Blickes zu würdigen. „Daher müsste ich noch ein Jahr und knapp zwei Monate übrig haben. Wegen des Verschwindens meines Sternbildes befürchte ich jedoch, dass Caomhán sich ein Jahr zurückgeholt hat."

Meliana schreitet Stufe für Stufe nach oben. Kurz bevor ihr Kopf im nächsten Stockwerk verschwindet, stellt sie einen letzten Satz in den Raum. Er bedrückt die Anderen so sehr, dass einige Zeit keiner mehr ein Wort sagen kann.

„Wie lange er sich bereits Lebensjahre Anderer zu seinem persönlichen Nutzen raubt, weiß wohl nur er selbst."

---
Melianas Kunst, die Stimmung (noch mehr) zu ruinieren, beherrsche ich auch ✌😔

Hallihallo~
Nun ist fast ein ganzes Jahr mit diesem Buch vergangen. Ihr habt es mir zu einem ganz besonderen gemacht, indem ihr mit den Charakteren mitgefiebert, mir Feedback gegeben und mich unterstützt habt. Dafür bin ich euch unendlich dankbar.
Dank euch freue ich mich jedes Mal, wenn ich ein neues Kapitel veröffentlichen kann, denn eure Rückmeldungen machen mich immer so glücklich.

Nun wünsche ich euch einen guten Rutsch in ein schönes, gesundes neues Jahr 2021! ✨

Eure __taeli__ 💛

[31.12.2020]

❀ endless questions ² || ATEEZWhere stories live. Discover now