Kapitel 14 ~ Klarheit

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Vier Tage segeln sie nun schon durch die Lüfte und die Begegnung mit Áki Ensom kommt stetig näher. Gedankenverloren blickt Aurea auf die hügelige Fläche hinab, welche sie überqueren. Das Meer ist bereits außer Sichtweite. Immer noch empfindet sie es als surreal, dass sie sich nun auf einem komplett anderen Kontinent befindet. Vorher entfernte sie sich nur wenige Kilometer von ihrem Zuhause, entweder zum Einkaufen oder zum Werben. Letzteres muss sie mittlerweile kaum noch tun, entweder kommen die Kunden von selbst, da das Gerücht von dem neuen, jungen Goldschmied sich schnell herumgesprochen hat, oder da Freya und Seonghwa ihren Charme spielen lassen.

Ihr selbst ist es sowieso viel lieber; das ist wohl das, was sie am wenigsten vermisst. Genervt hat es sie allerdings auch nie, denn sie tat es gerne für ihren Vater. In dem Handwerk fand er eine Stütze, einen Grund, weiterzuleben - und eben auch, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sein größtes Anliegen war es, seiner Tochter ein gutes Leben zu ermöglichen, besonders, nachdem alles andere zusammenbrach.

Wieder kommt Aurea der Briefwechsel zwischen ihrem Vater und Caomhán Ardent in den Sinn. Sie sollte die Schriftstücke endlich lesen. Nur irgendwie fand sie nie die Muße dazu. Obwohl sie doch eigentlich direkt neben ihrer Matratze in ihrer Tasche liegen. Trotz der Erinnerung daran verharrt sie in ihrer Position, vergräbt ihr Gesicht sogar noch tiefer in ihren Handflächen und belastet damit ihre abgestützten Ellenbogen mit einem höheren Gewicht.

Sich auf ewig vorgaukeln, die Briefe hätten nie existiert, kann sie jedoch auch nicht. Mit einem Seufzen richtet sie sich auf und begibt sich in ihr Zimmer. Dort wird sie alleine sein, denn fast jeder der Gruppe hält sich momentan auf dem Deck auf. Verständlich, solange die Sonne scheint, ist es am schönsten an der frischen Luft.

Im oberen Schiffsbauch hingegen ist es etwas stickig. Bedrückend, eigentlich. Vielleicht liegt es daran, dass sie sich mit einem Teil ihrer Vergangenheit beschäftigen wird, welchen sie verdrängen wollte, so tun, als hätte er nie stattgefunden.

Doch das ist nicht richtig. Man muss sich dem Geschehenen stellen, um die Zukunft bestreiten und um besser handeln zu können.

Behutsam klappt sie Sans Bettdecke weg, damit sie sich auf die Matratze setzen kann, ohne die Ordnung großartig zu zerstören. Sie redet sich ein, der Grund sei der Sitzkomfort, allerdings gehört noch mehr dazu. Es gibt ihr das Gefühl von Sicherheit, die Briefe an dem Platz zu lesen, wo er normalerweise ist, wo sie sich vorstellen kann, dass er doch irgendwie da ist und sie unterstützt. Lächerlich eigentlich. Soll sie doch lieber auf ihren Platz gehen?

Beim Versuch aufzustehen, wehrt sich ihr ganzer Körper. Sie müsste einen großen Kraftaufwand betreiben, um sich zu bewegen. Leise flucht sie und gibt nach. Irgendjemand drängt sie dazu, die Geborgenheit seines Platzes nicht zu verlassen.

Aus der Ferne ertönt ein Kichern. Verwirrt blickt Aurea sich um und sucht nach dem Verursacher. Da ist niemand. An ihren Armen spürt sie, wie sich ihre Härchen aufstellen und ihr Herz wird von einem Gefühl der Leichtigkeit durchzuckt.

Nun erinnert sie sich: In den zahlreichen Gesprächen, die sie bereits mit Sefia geführt hat, erwähnte diese immer wieder, dass solche plötzlichen Empfindungen oft ein Zeichen dafür sind, dass eine Energie aus dem Jenseits ganz nah ist. „Ich hab's kapiert, Mama", nuschelt Aurea breit grinsend, „ich beweg' mich schon nicht."

Außerdem erklärte ihr Sefia, dass auch die Stimme, welche sie beim Lesen der Briefe ihrer Mutter hörte, von genau dieser stammte. Sie meinte, Aureas Mutter wolle sie unterstützen. Denn so viel würde ihr bevorstehen und die Energien sollen und werden ihr helfen.

Sobald Aurea allerdings die ersten paar ausgetauschten Nachrichten zwischen Caomhán und ihrem Vater, Odoakar, gelesen hat, ist jegliche Freude vergessen. Es geht um ihre Mutter. Um ihren schlechten Zustand, kurz bevor sie starb. Es sollte ein Heilmittel geben; eines, das zu fantastisch erscheint, als dass es ein Außenstehender glauben würde. Doch es hatte bereits funktioniert, bei einem Kind, und Odoakar setzte alles daran, bei seiner Frau ebenso einen Erfolg zu erzielen.

Erschöpft legt Aurea den letzten Brief neben sich. Noch nie tat es ihr so weh, etwas zu lesen. Allerdings war es gleichzeitig die fesselndste Lektüre, welche sie jemals in die Hände bekam. Sie wird überflutet mit Erinnerungen an damals, als sie fünf war und ihr perfektes Leben zerbrach.

Völlig verloren in einer Leere ohne ein Gefühl für Zeit und Raum, starrt sie ziellos nach vorne.

Wie froh sie doch ist, auf Sans Bett zu sitzen. Obwohl sie noch immer nicht versteht, woran es liegt, sie fühlt sich geborgen. So muss es ihrem Vater einst gegangen sein. Nach dem Tod ihrer Mutter schlief er auf ihrer Seite des Bettes.

Endlich kann sie auch nachvollziehen, weshalb er die Sterne hasste. Weshalb er für den Außenbereich Laternen schmiedete, die die Dunkelheit vertreiben und das Licht des Nachthimmels in den Schatten stellen sollten. Weshalb er jegliche Magie aus seinem Haushalt verbannte und das Feuer des Ofens in der Werkstatt mit kostbaren Gegenständen schürte. Die, die sich einst in Sans jetzigem Zimmer befanden - damals war es das Atelier ihrer Mutter. Ihre gesamten Utensilien zum Malen und Zeichnen befanden sich darin.

Aurea wird erdrückt von all ihren Gefühlen. So vieles - alles! - ist ihr nun klar. Mit dem Versagen ihres Verstandes und ihrer Selbstkontrolle bahnen sich erste Tränen den Weg über ihre Wangen hinab. Das alles verschwieg ihr Vater ihr! Sie beginnt zu ächzen, zu schniefen und zu wimmern. Das alles musste er jahrelang mit sich herumschleppen und niemand wusste davon! Es überkommen sie Mitleid, Enttäuschung und Schuld.

Mitleid, da er seine Trauer alleine durchstehen musste, niemandem auch nur einen Bruchteil seines Leides erzählen durfte, den ganzen Ballast bis zu seiner Erlösung mit sich trug.
Enttäuschung, da er in seinem Wahn so viel zerstörte und Aurea den Kontakt mit jedem verbot, sie - außer für seine Werbeveranstaltungen - wegsperrte.
Und Schuld, da sie all das nie erkannte, den Tod ihrer Mutter einfach als eine Tatsache hinnahm, ihm nicht durch die dunkle Schlucht helfen konnte.

Träge erhebt Aurea sich, verpackt die Briefe ordentlich und bringt Sans Bett wieder in seinen Normalzustand. Mit dem Stapel in der Hand steht sie orientierungslos in dem kleinen Raum. Sie weiß nicht mehr, wo sie sich befindet, wie alt sie ist und sogar ihr eigener Name fällt ihr nicht ein. Zu viel schwirrt in ihrem Kopf herum, verwirrt sie und überfordert sie.

Erst eine sanfte Berührung bringt sie zurück in die Realität.

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Habt ihr eine Vermutung, wer Aurea hilft, wieder in die Realität zurückzufinden?

[04.07.2020]

❀ endless questions ² || ATEEZWhere stories live. Discover now