Kapitel 2 - Sowas von KEIN Alltag

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Blinzelnd öffnete Junie am nächsten Morgen die Augen. Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne funkelten durch die Spalten ihrer Holzhütte und verhießen ein deutlich schöneres Wetter als am gestrigen Tag. Allein dadurch schon motiviert, schälte sie sich aus ihren Schlafklamotten und schlüpfte in die grauen Hosen und Stiefel von gestern, doch statt dem Pulli zog sie heute lieber ihr grünes Lieblingsshirt an (weil es ihr nämlich tatsächlich passte und noch nicht ganz so abgegriffen aussah) sowie darüber ein kariertes, viel zu großes Männerhemd. Dessen überlange Ärmel schlug sie einfach bis zum Ellbogen zurück und knotete es vor dem Bauch zusammen statt es zuzuknöpfen. Ihre Haare bändigte sie mit einem grünen Stirnband.

Frisch gewaschen und mit einer dünnen Scheibe Brot bewaffnet, machte sich das junge Mädchen wieder auf den Weg in den Hafen. Wie üblich kam ihr in der Stadt kaum jemand entgegen, aber dennoch lag etwas in der Luft, das Junie nicht recht deuten konnte. Von den wenigen entgegenkommenden Menschen wirkten die meisten nervös, fast schon furchtsam, und sie schienen es eilig zu haben, die Straße zu verlassen. Neugierig, aber auch misstrauisch, beschleunigte sie ihre eigenen Schritte und verschlang hastig ihr Frühstück. Ob wieder Piraten in den Hafen eingelaufen waren? Das war eigentlich keine Seltenheit, und prinzipiell hatten die Leute auch nichts gegen die meisten davon - zahlten sie doch oft gut und füllten die Schenken und Freudenhäuser. Doch verschlug es natürlich auch die andere Sorte Pirat hier her, keine großteils friedlichen Freibeuter, sondern die blutrünstigen, plündernden Teufel, die alles nahmen, sinnlos zerstörten und eine Spur von Blut und Verwüstung hinterließen. Zwei mal hatte Junie das schon erlebt, jedes Mal war die Stimmung ähnlich gewesen.

Wie auf Kommando kamen ihr Cindy und Shin entgegen, zwei etwas ältere Straßenkinder, die ebenfalls täglich ihre Dienste als Stadtführer am Hafen anboten.
„Hey Junie, bleib heut lieber in der Stadt!", sagte Shin im Vorbeilaufen, er blieb gar nicht erst bei ihr stehen, sondern hastete direkt weiter.
„Piraten?", rief Junie ihm nach, und Cindy drehte sich nochmal um und nickte.
„Allerdings, und zwar echt krasse! Hau besser ab!"
Also hatte sie recht gehabt. Unschlüssig blieb sie stehen, aber nur kurz - erstens war sie einfach zu neugierig, und zweitens wäre ein Tag ohne Lohn wirklich nur schwer verkraftbar. Vielleicht kamen ja trotz Piraten noch andere Schiffe her... aber zuerst wollte sie sich einen Überblick verschaffen. Besser kein Lohn als kein Leben mehr, sie wusste ja nicht, was dort für Typen gelandet waren. Dementsprechend vorsichtig und leise näherte sie sich diesmal von der anderen Seite dem Hafen.

Es war ungewöhnlich ruhig, die üblichen Hafenarbeiter waren zwar zu hören, aber gedämpft - als würde keiner riskieren wollen, Aufmerksamkeit zu erregen. Nun noch vorsichtiger, aber ihrem Naturell nach ungebrochen wissbegierig, nutzte die Kleine die Deckung der Lagerhallen, um ungesehen vorwärts zu kommen und endlich einen Blick auf die Stege und den Vorplatz erhaschen zu können.

Junies Kinnlade fiel nach unten.

Heilige. Scheiße.

Vor Anker lag das absolut verflucht-noch-mal-größte Schiff, das sie je gesehen hatte! Wie konnte ein Schiff so riesig sein?! Imposant und stolz ruhte das Ungetüm im Hafenbecken und ließ die wenigen anderen ankernden Schiffe wie Spielzeug aussehen. Statt einer Galleonsfigur grinste ein gigantischer Walkopf auf sie hinab.

Die Moby Dick.
Hier.
In diesem Augenblick.
Direkt vor ihr.

Junie konnte es nicht fassen. Sie hatte viel über dieses Schiff gelesen, aber nie gedacht, es einmal in Natura zu sehen. Und wenn die Moby Dick hier war... mühsam um Fassung ringend, huschten ihre Augen weg von dem monströsen Schiff weiter über den (auffällig spärlich bevölkerten) Vorplatz. Bis sie die mittlerweile vertraut füllige Gestalt von Loui fand... welcher jedoch neben dem gewaltigen Mann, der direkt vor ihm stand, wie ein kleines, pummeliges Kind wirkte.

Das Feuer des Lebens  Where stories live. Discover now