Was passiert?

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Spielt das Lied ab und lest dazu. Ich liebe es❤️
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"Blou", fragt Andre verwirrt, als wir das Gebäude verlassen. Ich schlucke. Wie soll ich meinem Bruder beibringen, dass ich gar nicht hatte zurück kommen wollen, dass es mir dort besser gegangen war? Ich kann es noch gar nicht fassen, dass er noch lebt. All die Stunden in denen ich darüber nachgedacht hatte wie es wäre, wenn er es doch noch überleben würde. All die Stunden, in denen ich gehofft hatte, geweint und gebangt. Und jetzt laufe ich neben ihm her, als wäre nichts passiert.
"Lange Geschichte", weiche ich der Wahrheit aus.
"Die werde ich aber doch noch hören, oder?", sagt er mit Nachdruck. Ich spüre, dass er noch immer nicht mit dem Gedanken zurecht kommt, dass ich einfach abgehauen bin.

Als der Wagen um die Ecke biegt läuft mir ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Diese Straße birgt so viele Erinnerungen. Rose erzählt vorne munter von ihrem 'Kurzurlaub' und Frankreich und unterhält damit das ganze Auto. Ich betrachte die Stadt durch das Fenster und lasse langsam die ganzen alten Erinnerungen zurück kommen. Langsam scheint es, als wäre alles wie früher und das versetzt mich in Panik. Ich will nicht das es so wird wie damals. Ich will nicht in die alten Muster zurückfallen und vergessen, was für eine wunderschöne Zeit ich bei Jerry hatte. Und ich will Tim nicht vergessen.
Der Wagen hält vor einem einfachen Reihenhaus. Im Vorgarten blühen ein paar Blumen zwischen dem Kies und ein gepflasterter Weg führt zur dunkel grünen Haustür. In den Fenstern stehen ein paar Topfpflanzen und Dekoration. Es hat sich nichts verändert- zumindest von außen. Doch als Frank dieTür aufschließt sieht doch alles ganz anders aus. Die Wände sind rot gestrichen und direkt vor der Tür stapeln sich nicht mehr die ganzen Schuhe. Eine neue Kommode steht an der Wand neben der Tür und die Garderobe ist nicht mehr überhängt mit Jacken, sondern wirkt viel zu ordentlich für eine Familie mit Kind. Die anderen Stellen wie gewohnt ihre Schuhe auf die Fußmatte und hängen ihre Jacken weg. Ich stehe einfach mitten im Raum und starre sie an. Ich hab weder eine Ahnung warum ich hier bin noch wo ich hin soll. Frank merkt wohl meine Unentschlossenheit, denn er nimmt mir meine Tasche ab und sagt: "Wir werden beim Abendessen darüber reden, wie es weitergeht." Ich nicke langsam und lasse mich von Anna ins Wohnzimmer ziehen, dass sich etwas weniger geändert hat, aber mir trotzdem völlig fremd ist. Dann reicht sie mir ein Blatt und einen Stift, schiebt mich auf einen Stuhl am Esstisch und fordert mich auf: "Mama sagt du warst surfen." Sie zieht das U ganz lang, sodass es ich eher wie schlurfe anhört. "Kannst du das malen?" Sie sieht mich aus großen braunen Augen an.
"Oh Gott, Anna", sage ich. "Weißt du wie lange es her ist, dass ich mal was vernünftiges gezeichnet habe?" Ich seufze und setze den Stift auf Blatt.
"Anna! Jetzt lass Emilie erstmal ankommen!" Anna sieht schmollend zu ihrer Mutter hoch und rennt aus dem Wohnzimmer.
"Möchtest du etwas trinken?", fragt Rose mich so freundlich als hätte sich vergessen was in Frankreich alles passiert war. Ich schüttele den Kopf. Sie nickt langsam.
"Es ist das beste für dich, Emilie. Vertrau mir." Ich wende den Blick von ihr ab und schaue aus dem großen Fenster. Draußen zwitschern die Vögel und die Blumen blühen um die Wette. Frank und Roses Garten ist nicht groß, aber dafür überfüllt mit Blumen, Spielgeräten und allem möglichen anderen Zeug.
"Wann gibts Essen? Sonst gehe ich nochmal rüber." Andre steht plötzlich in der Tür und sieht Rose erwartungsvoll an.
"Deine Schwester ist gerade nach drei Jahren wieder nach Hause gekommen und du willst nur essen?", schimpft sie und stemmt die Hände in die Hüften. Er setzt zur Diskussion an, doch bevor er etwas sagen kann schüttele ich den Kopf.
"Geh nur", sage ich abwegig. "Du hast sicherlich auch noch was anderes zu tun als mir bei meinem Gequengele zuzuhören." Er wirft mir einen dankenden Blick zu und verschwindet wieder.
"Du musst mir nicht eine gerade aufgebauten Erziehungsentwiklungen verderben", nörgelt Rose.
"Und du musst dich nicht aufführe als wärst du seine Mutter", maule ich zurück. Sie wirft mir einen bösen Blick zu und verschwindet durch den türlosen Durchgang zur Küche.
Die nächsten paar Stunden führt mich Anna durch das Haus, erkürt mir alles und kramt schließlich ein Gesellschaftsspiel heraus um das ich nicht drumherum komme. Gegen sieben kommt Andre wieder und lässt nur kurz seinen Kopf in der Tür sehen, dann verschwindet er wieder irgendwo im Haus. Anna erklärt mir, dass er im Keller einen Raum nur für sich hat, wo er oft Musik hört und so was. Sie beteuert wie sehr sie ihn um das Zimmer beneidet, weil er ja nicht mal da schläft. Als ich sie frage wo er den schiefe sagt sie nur knapp: "Bei sich zu Hause." Damit ist das Gespräch beendet und ich muss würfeln. Einige Minuten später ruft Rose zu Tisch und wir packen das Spiel wieder zusammen.
Die Stimmung ist erdrückend. Ich wünsche mir Jerry her, der in solchen Momenten immer einen sinnlosen Spruch bereit hat der doch noch alle zum Lachen bringt. Man hört nur das Klirren des Geschirrs und kauende Kiefer, während jeder auf seinen Teller starrt und versucht so wenig Aufsehen wie möglich zu erregen. Schließlich hält es Frank nicht mehr aus.
"Also, wie war es für dich bei deinem Onkel?", fragt er mich. Seine Worte überschlagen sich fast selbst.
"Gut", sage ich knapp.
"Was mach man denn die ganze Zeit da?", fragt er weiter und ich fühle mich ein bisschen wie in einem Interview- kein schönes Gefühl.
"Nicht viel anderes als hier", sage ich zwischen zwei Bissen. "Surfen, neue Leute kennenlernen und mit Freunden treffen." Nun schaut Andre von seinem Teller auf.
"Neue Leute kennenlernen? In Frankreich? Du sprichst doch gar kein Französisch."
"Jetzt schon", sage ich und spieße eine Brokkoli auf meine Gabel auf.
"Kannst du mal was auf Französisch sage?", fragt Anna neugierig.
"Mir fehlen meine Freunde und ich möchte am liebsten wieder zurück", sage ich auf Französisch und hoffe das keiner hier am Tisch das verstanden hat. Anna sieht mich begeistert an.
"Und was hast du gesagt?", fragt sie.
"Dass das Esser sehr lecker ist und ich mich schon auf den Nachtisch freue", lüge ich und sie grinst. Andre sieht mich skeptisch an und ich weiß, dass er weiß das ich das nicht gesagt habe, doch er bleibt stumm. Irgendwann werde ich es ihm erzählen. Wenn sich alles gelegt hat.
"Erzähl doch mal von deinem englischen Freund", schlägt Rose vor und ich spüre wie die Blicke zu mir wandern. Sie gucken mich eh schon die ganze Zeit an, als wäre ich plötzlich aus dem Boden geschossen. Und jetzt ist es nur mehr ein Starren.
"Ein englischer Freund?", fragt Frank interessiert. "Ein Freund- Freund oder ein Freund?" Ich Blicke von meinem Teller auf.
"Ja, ich habe einen Freund", sage ich genervt. "Er kommt aus Wales und ich kenne ihn seit dem ersten Sommer." Bei meinem Tonfall schauen alle wieder gebannt auf ihren Teller als hätten sie Angst sie könnten etwas falsches sagen.
"Dann sprichst du auch Englisch?", fragt Anna, der das alles gleich zu sein scheint. Ich nicke.
"Englisch, Deutsch, Französisch...", zählt sie an ihren Fingern ab. "Noch was?" Sie sieht mich fragend an.
"Ich hab mal von einem Freund ein bisschen Spanisch gelernt und von Jerry etwas Portugiesisch." Mir war nie aufgefallen wie viel sich in der Zeit angestaut hatte. Spanisch hatte ich von einem Jungen gelernt, der mit seiner Familie neben uns gecampt hatte. Seine Eltern Sprachen ausschließlich Spanisch, weshalb er immer alles übersetzen musste. Doch auch er hatte nicht gut Französisch gesprochen, also hatte ich ihm nachgeholfen und er hatte mir als Gegenleistung Spanisch beigebracht. Nun kann ich wenigstens schon mal in Spanien Brötchen kaufen. Das komische ist, dass ich trotz dieses einen Jahres noch alles weiß, was er mir beigebracht hatte. Und Jerry hatte früher mal einige Jahre in Portugal gelebt, bis man ihn von seinem Campingplatz schmiss und er nach Frankreich zog. Ich hatte ihn irgendwann mal gefragt ob er mir nicht ein paar Brocken beibringen könnte. Eine Zeit lang hatten wir regelmäßig gelernt, bis er irgendwann keine Lust mehr hatte oder es vergessen hatte- so sicher bin ich mir da immer noch nicht. Aber auch das habe ich behalten, obwohl ich es nie gebraucht habe.
"Also fünf?", fragt Anna mit großen Augen. Wieder nicke ich.
"Wie bekommst du das den alles in deinen Kopf rein?", sagt sie ungläubig. "Ich kan. mir ja nicht mal die paar Englischvokabel merken." Unglücklich schaut sie auf ihren Teller. Ich weiß nicht warum, aber ich sage: "Dann übe ich mit dir, bist du's kannst." Ihr Mund verzieht sich zu einem Grinsen und sie nickt eifrig.
"Fünf Sprachen" Andre sieht mich nachdenklich an. "Und früher hast du dich immer darüber aufgeregt, dass du so viel lernen musstest." Ich spüre ein Kribbeln im Bauch und weiß nicht ob es gut oder schlecht ist. Ich möchte nicht über früher reden, aber ich freu mich, dass ich Andre doch nicht so egal bin, wie ich gedacht hatte.
"Ich bin auch nicht mehr die, die damals deine Freunde angeschrien hat, weil sie in mein Zimmer kamen." Andre lacht. Diese Story hatte sich wohl festgefressen. Ich hatte mich danach so geschämt, dass ich am nächsten Tag nicht zur Schule wollte, aus Angst ich würde seine Freunde sehen und diese würden mich dann auslachen. Der Seitz daran war nur, dass ich mich nach diesem Vorfall prima mit ihnen verstand.
"Ich hätte nicht gedacht, dass du dich da noch dran erinnerst", sagt er. Ich lache.
"Drei Jahre sind vielleicht eine lange Zeit, aber so lang nun auch wieder nicht", bedeute ich. Ich habe Angst das Gespräch würde umschlagen, er würde beginnen Fragen zu stellen, für die ich noch nicht bereit bin. Doch er lacht nur und seine Augen erklären mir, dass auch er noch nicht bereit ist. Mir fällt ein Stein vom Herzen.
Rose räumt den Tisch ab, während Andre, Frank und ich über alte Bands diskutieren. Ich weiß selbst nicht wie wir darauf gekommen sind, aber wir alle haben eine völlig andere Meinung, eine Meinung, die uns sehr viel wert ist. Ich habe in meiner Kindheit viel elterlichen Einfluss zu diesem Thema erhalten, der immer noch in mir steckt. Mein Vater hat Musik geliebt und wir hatten bis zum letzten Tag einen Plattenspieler und Regal voller Schallplatten im Wohnzimmer stehen. Ich frage mich was damit wohl passiert ist.
"Der Nachtisch ist fertig!", unterbricht Rose ihren Mann mitten in seiner Rede über Elvis Presley und seinen Tanzstil im Gegensatz zu Michel Jacksons. Anna schreckt aufgeregt hoch. Sie war über unserem Gespräch eingedöst, doch das Wort Nachtisch macht sie wieder hellwach. Während sie bewacht, dass auch ja gleichviel in jede Schüssel kam, beginne ich zu grübeln. Wo soll ich jetzt hin? Und was soll ich tun? So lange habe ich versucht das alles zurück zu halten und nun sitze ich hier und weiß nicht wohin mit mir. Frank sieht mich verständnisvoll an und sagt: "Du fragst dich sicher, was jetzt geschieht." Ich sehe ihn erwartungsvoll an. "Du kannst hier bleiben für die nächsten Tage, wenn du willst. Allerdings kannst du auch mit deinem Bruder mit gehen. Er wohnt seit einigen Monaten wieder in eurem alten Haus." Ich sehe Andre ungläubig an. Nach Hause? Zurück in das Haus, das ich so sehr geliebt habe, dass ich es zum Schluss nicht mehr darin aushielt? Mein Bruder grinst vielsagend.
"Ich hab nichts angefangen, dass nicht mir gehört, keine Panik", erklärt er, nachdem er meinen panische. Blick gesehen hatte.
"Das ist es nicht", sage ich ehrlich. "Ich weiß nicht ob ich das will..." Ich sehe Rose an. Zum ersten Mal hoffe ich, dass sie irgendetwas sagen könnte, dass mir meine Entscheidung abnimmt.
"Du kannst ja gleich einmal mit gehen und entscheidest dich dann", sagt sie und ich unterdrücke den Drang ihr für die Idee zu danke . Ich nicke nur.
Nach dem Essen helfe ich in der Küche abtrocknen und überlege fieberhaft, was ich machen soll. Gegen neun wird Andre dann ungeduldig. Ich sehe ihm an, dass er heute noch mehr vor hat, als seine kleine Schwester zu bemuttern.
"Einen Moment noch!", rufe ich zu Haustür raus und schnappe mir meine Tasche. Vielleicht werde ich sie nachher wieder zurück schleppen, vielleicht nicht, aber ich habe mich entschieden es doch zu versuchen. Andre steht draußen am Gartentürchen und wartet darauf, dass ich den Weg entlangrenne und ihm einen genervten Blick zuwerfe.

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