Kapitel 56

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Abgesehen von dem kleinen Rückschritt am Samstagnachmittag, war das Wochenende eigentlich ganz in Ordnung. Auf jeden Fall einiges besser als das Vorherige. Ich verbrachte viel Zeit mit den Kids und kam so auch gar nicht dazu, allzu viel nachzudenken. Zumindest nicht den Tag hindurch. Dennoch formte sich in den schlaflosen Nächten und wenigen Momenten, in denen ich alleine war, eine Erkenntnis in meinem Hinterkopf, die gleichzeitig befreiend und extrem schmerzvoll war.
Ich war nicht in Ordnung. Die Sache mit den Serpents und meinem Vater schien etwas ausgelöst zu haben, was wahrscheinlich schon seit langem in meinem Unterbewusstsein gebrodelt hatte. Es war nicht das erste Mal, dass mein Leben komplett auf den Kopf gestellt wurde und in der Vergangenheit war ich auch immer irgendwie darüber hinweggekommen. Ich hoffte, dass das auch dieses Mal so sein würde. Gleichzeitig war ich mir bewusst, dass dies nie der Fall sein würde, wenn der drohende Verlust von Kevin wie die Schneide eines Richterschwerts über meinem Kopf schwebte. Und diese Erkenntnis war schmerzhafter, als ich sie mir in meinen schlimmsten Albträumen ausgemalt hatte.

Es war Mittwoch, als ich mich schliesslich von meiner Mutter und den Kids verabschiedete und zurück nach Riverdale fuhr. Ich musste unterwegs mehrmals anhalten. Einerseits, weil ich mir mit meinem Schlafmangel nicht zutraute, länger als eine Stunde am Stück zu fahren. Andererseits aber auch, weil ich dadurch das Wiedersehen mit Kevin noch etwas herauszögern konnte. Doch konnte ich mich davor nicht drücken. Und so stand ich schliesslich Mitte des Nachmittags vor dem Haus der Kellers.
Sierra öffnete mir die Tür und schien gleichermassen überrascht und erfreut mich zu sehen.
"Joaquin, schön dass du da bist", begrüsste sie und bat mich sofort hinein. "Wir hatten uns schon Sorgen gemacht."
Ich liess das unkommentiert und folgte ihr in den Flur. Die Schuhe und Jacke behielt ich jedoch an. "Ist Kevin da?"
Etwas überrascht nickte die Schwarzhaarige. "Ja, er telefoniert gerade mit seiner Mutter. Magst du etwas trinken, während du wartest?"
Ich schüttelte leicht den Kopf. "Nein, danke. Ich warte draussen. Kannst du ihm sagen, dass ich da bin?"
Die ehemalige Bürgermeisterin wirkte nun sichtlich verwirrt, hielt mich jedoch nicht auf, als ich wieder zurück auf die Veranda trat und mich dort auf die Stufen setzte.
Ich versuchte mir die passenden Worte zurecht zu legen, doch als die Eingangstür erneut klickte, war ich keinen Schritt weitergekommen. Es gab einfach keine Worte, die ausdrücken konnten, wie ich mich gerade fühlte.
Das wettergegerbte Holz der Veranda knarrte leise, als Kevin sich neben mir setzte.
"Hey."
In seiner Stimme schwang ein bissiger Unterton mit, den ich erst ein paar Mal von ihm gehört hatte. Und selbst dann war er nie an mich gerichtet gewesen. Doch nachdem ich ihn über eine Woche lang mehr oder weniger ignoriert hatte, hatte ich das wohl verdient.
"Hi", erwiderte ich vorsichtig und warf ihm einen Seitenblick zu. Er sah starr gerade aus und ich glaubte mir einzubilden, dass da ein paar zu viele feine rote Adern in seinen Augen sichtbar waren. Auch mit seinem Gesichtsausdruck stimmte etwas nicht. Doch bevor ich nachfragen konnte, richtete er seine Worte auch schon an mich. Und er hielt sich für keinen Moment zurück.
"Erzählst du mir, wieso du einfach so verschwunden bist und mich eine Woche lang ignoriert hast?"
Ich fuhr mir mit beiden Händen durch die Haare und richtete meinen Blick zurück auf den Weg vor uns.
"FP hat- es waren Serpents. Die meinen Vater umgebracht haben. Und ich komm' nicht wirklich klar damit."
Kevin zog scharf Luft ein und legte seine Hand über Meine. Die Härte aus seiner Stimme war verschwunden und er fiel sofort in den besorgten Modus zurück, den ich in den ersten Monaten nach unserem zweiten ersten Treffen viel zu oft zu sehen bekommen hatte. "Joaquin-"
Ich unterbrach ihn, in dem ich meine Hand befreite und den Kopf schüttelte. "Ich will nicht darüber reden. Das Ganze hat mir ziemlich den Boden unter den Füssen weggezogen. Ich hab' einfach etwas Abstand gebraucht. Von allem hier. Darum bin ich gegangen."

Ich konnte aus dem Augenwinkel erkennen, dass der Braunhaarige leicht mit dem Kopf nickte. "Und, hat es etwas gebracht?"
"Nicht wirklich... Und ich glaube auch nicht, dass das so schnell weggehen wird", gestand ich nun und sah ihn direkt an. "Aber ich hatte eine Menge Zeit zum nachzudenken. Kev, ich- ich kann keine Fernbeziehung führen. Ich kann nicht hier sitzen und darauf warten, dass du auch noch aus meinem Leben verschwindest. Nicht nach all dem was -"
Meinem Gegenüber entglitten die Gesichtszüge und er sprang auf seine Füsse. "Wie oft muss ich dir noch sagen, dass ich kein Interesse an College-Typen habe?! Vertraust du mir gar nicht?"
Ich fuhr mir mit beiden Händen durch die Haare, auf der Suche nach Halt. "Natürlich vertraue ich dir. Das ändert aber nichts daran, dass ich seit Wochen kein Auge mehr zukriege, weil jeder meiner Albträume sich um dich dreht. Die Möglichkeit, dass etwas passieren könnte, reicht aus."
Ich versuchte den dicken Kloss, der sich in meinem Hals gebildet hatte, herunterzuschlucken. Doch das Ganze trieb mir nur die Tränen in die Augen.
Auch Kevin schien gegen die Tränen zu kämpfen. Das Zittern in seiner Stimme und die Art, wie er explizit nach oben in den Himmel sah, verriet ihn.
"Was soll das jetzt heissen? Machst du gerade Schluss mit mir?"
Ich biss auf meine Unterlippe, brachte jedoch kein weiteres Wort heraus.
"Was ist mit 'wir finden einen Weg'? War das etwa auch eine Lüge?", seine Stimme brach und ich glaubte mir eine Träne einzubilden, die aus seinem Augenwinkel kullerte.
"Nein", erwiderte ich sofort und kam nun auch auf die Füsse. "Ich dachte es würde gehen aber-"
Er unterbrach mich mit einer kurzen Handbewegung. Sein Ausdruck hatte sich verhärtet und seine Stimme war plötzlich ungewohnt kalt. "Geh. Ich hab' genug von all den Ausreden."
"Kev-", versuchte ich es noch einmal, doch er drehte sich bestimmt von mir ab.
"Verschwinde Joaquin." Es war offensichtlich, dass ich nicht mehr an ihn herankommen würde.
Und vielleicht ist es auch besser so, redete ich mir ein und drehte mich zu meinem Motorrad zurück.

Auf der anderen Seite der SchienenOnde histórias criam vida. Descubra agora