Kapitel 50

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Es tut mir leid, dass ihr so lange auf ein neues Kapitel warten musstet. Die Uni und vor allem das Semesterende mit Prüfungen und viel zu vielen Arbeiten zum abgeben hat mich die letzten Wochen/Monate echt im Griff gehabt. Aber jetzt ist alles durch und ich hab drei Wochen Semesterferien. Ihr könnt euch also auf wieder etwas regelmässigere Updates einstellen.
Viel Spass beim Lesen!

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Für ein paar Minuten war ihre Umarmung warm, ja sogar schon beinahe tröstend. Doch je länger die Arme meiner Mutter um meinen Körper lagen, desto beklemmender wurde ihre Geste. Es war als ob sie mich immer fester drücken würde, bis ich keine Luft mehr bekam. Kälte machte sich in mir breit und ich spürte wie meine Hände zu zittern begannen. Ihre mütterliche Nähe, die mir noch vor wenigen Minuten wie eine Rettung erschienen war, erstickte mich nun.
Nach ein paar wenigen Minuten, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten, konnte ich es schliesslich nicht länger ertragen. Ich war nicht mehr das elfjährige Kind, das darauf wartete, geliebt zu werden. Egal wie hart es gewesen war, ich hatte gelernt alleine für mich zu sorgen. Und niemanden mehr so nahe an mich heran zu lassen, damit er oder sie mich komplett zerbrechen konnte. Ausser Kevin, ging es mir durch den Kopf. Der Braunhaarige hatte sich irgendwie unbemerkt an meinem Zaun vorbeigeschlichen und kam inzwischen extrem nahe an diese unsichtbare Grenze heran. Ich löste mich aus der unangenehmen Umarmung und trat einen Schritt zurück. War das ein Problem? Die letzten Monate mit dem Northsider waren so schön und unbeschwert gewesen, dass ich gar nie darüber nachgedacht hatte.
Auch in diesem Moment blieb keine Zeit dafür, denn kaum hatte mich von ihr gelöst, streckte meine Mutter auch schon wieder ihre Hand nach mir aus. "Können wir darüber sprechen? Du solltest wissen, was damals passiert ist."
Ich schluckte einmal trocken und nickte, deutete dann aber mit dem Kopf in Richtung des Balkons. "Sì aber ich muss erst Eine rauchen."
"Natürlich. Ich mache uns etwas zu trinken." Meine Mutter war offensichtlich verwirrt, hielt mich jedoch nicht auf als ich aus der Küche zurück ins Wohnzimmer und von da auf den Balkon hinaus trat. Ihre Reaktion war berechtigt, schliesslich hatte sie mich noch nie zuvor rauchen gesehen. Es war Jahre her, dass ich mich zuletzt von Sweet Pea zu einem Glimmstängel anstiften lassen hatte. Daran hatte sich seit unserem letzten Treffen nichts geändert, doch mir war gerade keine andere Ausrede eingefallen, die ihr nicht vor den Kopf gestossen hätte. Und ich brauchte gerade wirklich einfach einen Moment alleine, um meine Gedanken und Gefühle wieder zu sortieren.

Die kühle Nachtluft in meiner Lunge und die, bis auf das gedämpfte Geräusch von vorbeifahrenden Autos, stille Nacht tat schnell ihre Wirkung und nach ein paar Minuten hatte ich endlich wieder das Gefühl mich selbst zu sein. Meine Füsse dankten mir dafür, dass es nicht länger dauerte; der nackte Betonboden war wirklich kalt.
Als ich zurück ins Wohnzimmer kam, sass meine Mutter bereits wieder am Esstisch. Die bedruckten Blätter, an denen sie zuvor gearbeitet hatte, waren jedoch verschwunden. Stattdessen befanden sich nun zwei dampfende Tassen mit einem grünlichen Inhalt - Tee? - auf der dunklen Holzplatte. Ich setzte mich ihr gegenüber und legte meine kalten Finger um das weisse Porzellan. "Schiess los."
"Als ich herausgefunden habe, dass ich mit dir schwanger war, hatte ich anfangs grosse Angst. Dein Vater und ich waren erst seit ein paar Wochen offiziell ein Paar und ich noch mitten in meiner Ausbildung. Aber Joe war vom ersten Tag an überglücklich. Er liess mich glauben, dass wir alles schaffen konnten." An ihrer gefassten Stimme war gut abzulesen, dass sie sich diese Worte schon lange zurechtgelegt hatte. Deshalb zögerte ich auch keine Minute, sie zu unterbrechen. Schliesslich wollte ich keine vorbereitete Geschichte hören, sondern die Wahrheit.
"Wieso Joe? Ich dachte immer, ich sei nach ihm benannt worden. Aber in den Akten zu seinem Tod stand auch überall 'Joe'. War das etwa auch eine Lüge?"
Sie schüttelte ihren Kopf. "Nein, er hiess auch Joaquin. Joaquín Fernando Reyes, aber alle haben ihn einfach immer 'Joe' genannt, später dann 'Bikeshop-Joe'. Ich habe seinen vollen Namen auch erst erfahren, als er ihn als Deinen vorgeschlagen hat." Sie nahm einen Schluck von ihrem Tee und anhand der Wellen, die sich in der Tasse bildeten als sie diese wieder abstellte, konnte ich erkennen, dass sie nicht mehr ganz so ruhig wie vorher war. "Du hast die Akten gesehen?"
"Ja. Aber ich will hören was du denkst, dass in dieser Nacht passiert ist."
Sie nickte, fuhr dann jedoch da fort, wo sie aufgehört hatte, anstatt direkt zum Punkt zu kommen. "Am Anfang war alles genau so, wie wir es uns erträumt hatten... Du kannst dich sicher auch noch ein wenig daran erinnern. Wir waren glücklich. Dein Vater machte sich einen Namen in der Szene als der Typ, zu dem man ging, wenn ein Motorrad unerklärliche Probleme hatte. Und nach einer Weile kamen nicht mehr nur Serpents, sondern auch einige Northsider zu ihm. Doch die haben sich nie wirklich wohl dabei gefühlt, ihre Motorräder länger bei ihm im Shop zu lassen. Deshalb hat er sich schliesslich auf der Northside nach einem Laden umgesehen. Es hat drei Jahre gedauert, bis schliesslich jemand bereit dazu wahr, ihm einen kleinen Laden mit Garage nahe der Schienen zu vermieten. Ich kann mich noch gut erinnern, wie glücklich er an diesem Tag nach Hause kam. Er hat Milkshakes aus dem Pop's mitgebracht und du hast dein ganzes Gesicht komplett mit Schlagrahm eingesaut. Kannst du dich daran erinnern?"
Ich schüttelte wortlos meinen Kopf.

Auf der anderen Seite der SchienenKde žijí příběhy. Začni objevovat