Kapitel 23

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Ich lese den Satz noch einmal.

„Wann bringst du den Jungen endlich um?"

Den Jungen.
Jungkook.

Die Initialen sind nichtssagend, wer die Nachricht verfasst und mir Essen geschickt hat, weiß ich nicht.

„Ist etwas?", fragt Jungkook auf einmal.
Hastig nehme ich den Löffel aus der Schachtel und lege den Deckel drauf. „Nein, nichts."
Jungkook steht auf und setzt sich ans Lagerfeuer. Seine Hände streckt er erst nach vorn zu den Flammen, dann umklammert er wieder seine Beine. Mit dem Behälter, der Thermosflasche und dem Besteck in den Händen, lasse ich mich neben ihm nieder. „Du hast bestimmt Hunger", bemerke ich, während ich den Schraubdeckel öffne. Aus dem Augenwinkel suche ich nach irgendeinem Zeichen, dass er den Satz schonmal von mir gehört hat, doch meine Worte scheinen nichts in ihm auszulösen. Er erinnert sich vielleicht wirklich nicht mehr an die Ereignisse seit seinem Umkippen. Dass ich ihm die Kleider gewechselt habe und er dann eng an mir lag...
„Du musst dein Essen nicht mit mir teilen."
Unverständlich schüttle ich den Kopf. „Ich schaffe das sowieso nicht alles", lüge ich. Jungkook sieht mich nicht an, sondern starrt nur weiter geradeaus ins Feuer.

Ich beginne das Essen in mich reinzuschaufeln und muss mich immer wieder davon abhalten alles auf einmal in mich reinzukippen, damit ich es nicht gleich wieder auskotze - und natürlich noch was für Jungkook übrig bleibt. Ich habe schon so lange nichts mehr gegessen, dass sich jeder Bissen wie eine Geschmacksexplosion anfühlt. Als ich etwas mehr als die Hälfte runterbekommen habe und ein paar Schlücke von dem Tee nehme, stupse ich Jungkook mit der Schale an. „Hier, ich will nicht mehr. Wenn du es nicht essen willst, dann wird es kalt. Das wäre doch Schade." Er dreht sich zu mir und mustert erst das Essen, dann mich. „Danke." Er nimmt sie und löffelt den Rest der vorgeschnittenen Mahlzeit. Während er genüsslich kaut, gleitet sein Blick hinaus zum Felsspalt. „Warum warst du so nass als du am Eingang geschlafen hast?"

Die schrecklichen Bilder von Marks Tod kommen mir wieder in den Kopf und ich muss schwer schlucken. Ich brauche einen Moment bevor ich ihm antworte. „Ich war draußen und habe Wasser geholt." Jungkook nickt verständlich und ich bin froh, dass er nicht weiter nachhakt. Er lässt sich deutlich mehr Zeit mit dem Essen als ich und ich frage mich, ob er noch immer unter der Appetitlosigkeit leidet. Ich reiche ihm die Thermosflasche und er nippt an ihr. Dass er endlich etwas gegessen hat, gibt mir ein gutes Gefühl. Nur leider wird es nicht ewig reichen. Ich hätte bestimmt das dreifache der Portion essen können. Wir müssen dringend Nahrungsmittel suchen.

Jungkook schielt zu mir, während er noch einen Schluck von dem Tee nimmt und die Thermosflasche dann neben sich abstellt. „Warum starrst du mich so an?", fragt er. Dabei klingt er weder böse noch vorwurfsvoll, seine Stimme ist ganz ruhig. Habe ich ihn wirklich angestarrt? Ich fühle mich gleich ertappt. „Ich bin nur froh, dass du etwas isst. Tut mir leid." Mit der Hand winkt Jungkook meine Entschuldigung ab. „Du darfst dich nicht bei mir entschuldigen", sagt er auf einmal. Unschlüssig schaue ich ihn an und er wendet seinen Blick von mir ab. „Ohne dich wäre ich wahrscheinlich schon...", er stockt, zieht die Luft ein und verharrt für einen Moment so. „Tat es weh? Der Tritt in die Rippen?", seine Augen treffen wieder auf meine. Sein Ausdruck ist wieder so mitleidig, wie ich ihn zuletzt gesehen habe, als ich darauf bestanden habe ihn zu stützen. „Es war nicht sehr schlimm", antworte ich nur. „Du musst dir darum keine Gedanken machen", füge ich hinzu. Jungkook sieht mich noch für einen Moment an, dann schaut er wieder weg. Seufzend steht er auf und verlässt die Höhle. Kurze Zeit später folge ich ihm. Wo will er denn jetzt schon wieder hin?

Als ich den ersten Schritt raussetze, brauche ich einen Moment um mich an das helle Tageslicht zu gewöhnen. Ich halte mir die Unterarme vor die Sonne und senke sie nur allmählich. Der Himmel ist blau. Wirklich blau. Ich trete neben Jungkook, der in Mitte der kleinen Lichtung steht und folge seinem Blick nach oben. Die Wolken wandern wie Kreaturen am Himmel und ziehen langsam mit dem Wind davon. „Es ist schön, oder nicht?", sagt Jungkook. Ich nicke. In meinem Kopf öffnen sich Erinnerungen vom Dach, wie wir spät Abends nebeneinander saßen und die Sterne beobachteten.

Ghost | Vkook  Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt