20 - Der Hinterhalt

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,,Kertmikt", brüllte jemand hinter Lenoa und sie wirbelte herum. Aus dem Gang, durch den sie gekommen waren, stürmten etwa ein Dutzend Zwerge, bis an die Zähne bewaffnet und angriffsbereit.

Lenoa kannte das Wort in der Sprache der Zwerge nicht, wusste aber trotzdem, dass es Angriff bedeutete.

Die Zeit verlangsamte sich. Es war, als würden ihre Sinne sich verschärfen.

Sie sah, dass Kelmors Axt Paradur in den Rücken traf, jedoch nicht so viel Schaden anrichtete, wie es möglich gewesen wäre, da Paradur ausgezeichnete Reflexe hatte. Sie hörte den Ruf von Arsiena, erschrocken, aber gefasst und entschlossen. Sie roch die Erde, das Blut, das kommende Gewitter. Sie spürte die Bogensehne zwischen ihren Fingern.

Ihre Beine setzten sich in Bewegung, folgten dem Befehl von Arsiena, ohne, dass sie es bemerkte. Lenoa nahm alles wahr, als würde sie als unbeteiligter Zuschauer dabeistehen.

Malion, der neben ihr rannte, ein Schnitt an seinem Oberarm. Ein einzelner Blutstropfen löste sich daraus und wurde vom Stoff seiner Kleidung aufgesogen. Sein Gesichtsausdruck war verwirrt, angsterfüllt, wütend.

Arian, der hinter ihnen rannte, mit dem Schwert hackte er immer wieder auf ihre Verfolger ein. Seine Miene war konzentriert, beinahe regungslos. Das dunkelrote Blut lief von seiner silbernen Waffe. Es tropfte auf den Boden, färbte das Gras und die Erde rot.

Paradur, mit seinen kürzeren Beinen war er der Letzte, er war schwer zu erkennen in der Gruppe der Angreifer. Mit verbissenem Gesichtsausdruck stach er auf seine Artgenossen ein, tötete drei mit zwei Schlägen seiner polierten Axt.

Arsiena, die schnellste Sprinterin, stand auf einem Felsen, furchtlos den Feinden entgegen gewandt. Mit tödlicher Präzision schoss sie einen Pfeil nach dem anderen ab, gab Paradur die Rückendeckung, die er brauchte.

Lenoa sprang zu ihr auf den Felsen, zog einen Pfeil nach dem anderen aus ihrem Köcher. Jeder Schuss traf, jeder bedeutete einen verletzten oder gar toten Zwerg.

Adrenalin schoss durch ihren Körper, ließ sie ihre Panik vergessen. Arian bekam einen Hieb von einer Axt ab, Lenoa jagte dem dafür verantwortlichen Zwerg einen Pfeil durch die Kehle.

Entfernt bemerkte sie, dass ihre Finger blutverschmiert waren. War das ihres? Wenn ja, wo war sie verletzt? Wie in Trance tastete sie zu ihrem Bein. Ein Brennen durchzuckte sie, so stark, dass sie es in ihrem Rausch wahrnahm.

Ein weiterer Pfeil, ein weiterer Schuss. Sie konnte sich später darum kümmern. Wo war Malion? Neben ihr, er war unfreiwillig in den Nahkampf übergegangen. Der Zwerg war kleiner als er, doch Lenoas Bruder hatte nur einen Dolch gegen eine breite Axt.

Lenoa nutzte es aus, dass sie auf dem Felsbrocken stand und gab dem Zwerg einen Tritt gegen den Kopf. Das lenkte ihn genug ab, sodass Malion ihm den Dolch seitlich in den Hals stoßen konnte.

Sofort zog sie einen neuen Pfeil aus ihrem Köcher und suchte nach einem neuen Ziel.

Es gab keines.

Die Wiese war rot eingefärbt, überall lagen tote oder verletzte Zwerge.

Paradur ging von einem zum anderen und stach in jede Brust, die sich noch heben und senken konnte. Sein Gesicht war voller Blutspritzer, aber er schien unverletzt.

Malion blutete am Arm und an der Wange, stand aber aufrecht und hob gerade seinen Bogen vom Boden auf.

Arsiena stand auf dem Boden, ihr Köcher war leer, der Dolch in ihrer Hand blutverschmiert. Eine Wunde an ihrer Hüfte färbte ihre Kleidung dunkel.

Lenoa wollte sich nach Arian umsehen, gerade eben hatte er noch aufrecht gestanden und gekämpft. Als sie sich umdrehte, fiel ihr Blick auf den Zwerg, den Malion erdolcht hatte. Das Adrenalin wich aus ihrem Körper.

Leere Augen starrten sie an, noch immer tröpfelte Blut aus der Wunde. Lenoa wurde übel. Sie taumelte von ihrem Felsbrocken. Ihr verletztes Bein gab unter ihrem Gewicht nach und sie fiel auf die Knie, eine Sekunde später übergab sie sich.

Sie hatte noch nie jemanden getötet. Ein paar Kwir, ja, aber das waren keine Lebewesen. Das waren Schattenkreaturen, die nie gelebt hatten. Nie gefühlt, nie wirklich gedacht, nie geliebt hatten.

Diese Zwerge hatten Familie. Freunde. Um sie würde getrauert werden, so wie Lenoa um ihren Vater getrauert hatte.

Zitternd lehnte sie sich gegen den Felsen, mit geschlossenen Augen, sodass sie keine weiteren Leichen sehen musste.

,,Kelmor, dieser Bastard!", fauchte jemand, aber sie hörte nicht hin. Ihre Gedanken wurden träge, keine Spur mehr von ihrer Scharfsinnigkeit während des Kampfes.

,,Wir müssen hier weg", sagte eine andere Stimme, die Lenoa im langsamen Fluss ihrer Gedanken nicht zuordnen können. ,,Wo ist Arian? Lenoa? Hier bist du! Geht es dir gut? Bist du verletzt?"

Lenoa wollte antworten, doch ihre Zunge fühlte sich pelzig an, zu dick und klobig, um Worte zu formen. Jemand zog sie am Oberarm hoch. ,,Kannst du laufen?"

Gerade noch so bekam sie ein Kopfschütteln zustande. Ihr Bein zitterte unter der Belastung, sie spürte das heiße Blut auf ihrer von kaltem Schweiß bedeckten Haut.

Irgendwie schaffte sie es trotzdem, aufrecht zu bleiben. Jemand stützte sie, führte sie weiter, weg, irgendwohin.

Sie konnte Stimmen hören, irgendjemand unterhielt sich. Mühsam setzte Lenoa einen Fuß vor den anderen, rechts stützte sie sich schwer auf die Schulter unter ihrem Arm.

Mit viel Aufwand öffnete sie ihre Augen. Sie humpelten auf die Sturmwolken zu, nach Süden, dort, wo sie hinwollten. Ihr wurde wieder schwindelig und sie schloss abermals die Augen.

,,Lenoa verliert zu viel Blut. Wir müssen anhalten und zumindest ihre Wunde verbinden", sagte jemand. War es Malion?

Nur am Rande nahm sie wahr, dass sie auf den Boden gelegt wurde. Das Gras unter ihrem Körper war hart und unbequem. Ob es hier wohl oft regnete? Oder schneite es schon? Waren sie hoch genug dafür?

Ihre Gedanken wurden noch langsamer. Hitze fuhr in Wellen durch ihren Körper. War es heiß hier? Schien die Sonne? Das Gras war nicht mehr unbequem. Nichts war unbequem, solange sie liegen bleiben konnte.

Die Ränder ihres Bewusstseins wurden schwarz. Wurde dort der Schmerz besser? Im Nichts? Dieser pochende, unangenehme Schmerz, irgendwo in der unteren Hälfte ihres Körpers? War sie etwa verletzt?

Das Nichts wurde drängender, engte sie weiter ein. Sollte Lenoa dem nachgeben? Es wäre einfacher. Wann würde sie dort wieder hinauskommen? Gäbe es überhaupt einen Weg zurück?

Alles um sie herum war schwarz. Es war einfach. Hier war der Schmerz, dort war die Ruhe. Lenoa ließ sich von der Dunkelheit einhüllen.

Ma'kani - Auserwählte der Inaari'iWo Geschichten leben. Entdecke jetzt