33 - Der See

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Drei Tagesmärsche hatten sie für den Weg zum See eingeplant, jetzt schafften sie ihn in zwei. Lenoa wollte keine Pausen machen. Sie wollte nichts essen, nichts trinken, nicht schlafen.

Es war schlimmer als die Zeit in den Bergen, als sie ihren Körper überstrapaziert hatte. Wenigstens hatte ihr Geist sich da noch in ihrem Herzen verkriechen können. Jetzt war ihr Herz nicht mehr sicher. Ein weites, leeres Loch hatte die Sicherheit darin zerstört. Ihr Leben hatte mit Malion jegliche Freude verloren. Sie funktionierte nur noch für das Ziel, Arlemia zu retten.

Die anderen bemühten sich zwar sehr, Mitleid zu zeigen, doch Lenoa wusste, dass sie hinter ihrem Rücken redeten und ihr Handeln nicht verstanden. Das war ihr egal. Ihr war beinahe alles egal, außer das glitzernde, türkise Gewässer, das stetig näher kam.

Trotzdem kam es Lenoa vor wie im Traum, als sie dann wirklich am Ufer standen und über die sanften Wellen zur Insel blickten. Der See war größer als sie gedacht hatte, das Wasser an einigen Stellen kristallklar, an anderen trüb und dunkel.

Lenoa kannte die Geschichten, die sich um den See Linarw drehten. Wassermenschen, Seemonster, jeder wusste eine andere Schauergeschichte zu erzählen. Sie glaubte nicht daran, trotzdem fühlte sie sich nicht gut dabei, dem Wasser zu nahe zu kommen.

Da inzwischen schon die Dämmerung einsetzte, suchten sie sich einen Lagerplatz unter der gefährlich weit überhängenden Böschung, ein paar Meter vom Wasserrand entfernt.

Arsiena, Paradur, Arian und Kelmor setzten sich in einen Kreis und diskutierten, wie sie am Morgen auf die Insel kommen sollten. Es war um einiges zu weit um einfach zu schwimmen und ein Boot hatten sie keines.

Lenoa hatte kein Interesse daran, sich an den Gesprächen zu beteiligen. Nach nur kurzer Zeit und noch bevor die Sonne ganz untergegangen war, entfernte sie sich unbemerkt und setzte sich an den Rand des Wassers. Sanfte Wellen schwappten mit einem leisen Plätschern über den Kies.

Der Anblick der kleinen Steinchen weckte die Erinnerung an ihre Visionen in Gla'zal. Balyna hatte Nazilda es genannt und Lenoa hatte diesen Namen unwwillkürlich mit dem Wind in ihr verbunden, der sie hier her geleitet hatte. Balyna. Eine Kraft, die nur die mächtigsten Königinnen früher beherrscht hatten. Warum also sie?

Eine Frage, die Lenoa nicht beantworten konnte. Aber sie wusste sehr genau, was sie gesehen hatte. Daotan. Kwir. Die Insel mit den Kieselsteinen.

Von hier sah die Insel Thelyn in der Mitte des Sees bewaldet aus, doch Lenoa konnte aus dieser Entfernung auch nicht ausmachen, wie das Ufer beschaffen war. Gut möglich, dass ein Kiesstreifen den Wald umgab.

Für einen Moment fragte sie sich, wie viel an den unzähligen Geschichten über den See wahr sein konnte, doch sie verwarf diese unwichtigen Gedanken schnell wieder.

Sie hatte erwartet, wenigstens irgendetwas zu fühlen, wenn sie angekommen war. Doch Balyna meldete sich nicht zu Wort. Sie fragte sich, ob das ein schlechtes Zeichen war, oder ob das noch kommen würde, wenn sie erst einmal auf der Insel war.

Auch hätte sie sich wohl darüber freuen sollen, nun fast am Ende ihrer Reise zu sein. Doch sie war weder aufgeregt, noch freute sie sich. Vielleicht waren diese Gefühle mit Malion gestorben.

Nachdenklich zog sie Inzarn hervor und fuhr mit den Fingern die Klinge entlang. Die Schneide war so unglaublich scharf, dass sie keinen Druck ausüben musste und sich trotzdem ganz leicht in den Finger schnitt. Ein einzelner Tropfen Blut fiel auf die in der dichter werdenden Dunkelheit grauen Kiesel.

Vermutlich bildete sie sich das ein, doch es schien, als würde das Schwert leuchten. Kaum merklich, aber trotz der untergegangenen Sonne sah es so aus, als würde ein blaues Glimmen davon ausgehen.

In diesem Moment stiegen einige Luftblasen im See auf. Das Geräusch war leise, aber Lenoa erschrak sich dennoch davor. Nun doch etwas beunruhigt kehrte sie zu den anderen zurück und legte sich wortlos schlafen.

Sie bekam nicht mit, wie die anderen ihre Diskussionen beendeten und sich zu ihr gesellten, trotzdem wachte sie wie die letzten Nächte auch mehrmals auf, nicht selten aufgeweckt von Albträumen.

Irgendwann im Morgengrauen wusste sie, dass sie nicht mehr würde einschlafen können. Sie löste Arian bei seiner Wache ab und setzte sich mit einigem Abstand zur Wasserkante ans Ufer, Inzarn auf ihrem Schoß.

Das Land schlief noch. Nur gelegentlich hörte sie über sich das Flattern einer Fledermaus oder ein leises Platschen im See, ansonsten war die Stille ungebrochen.

Umso größer war der Schock, als vor ihr etwas die Wasseroberfläche durchbrach, keine drei Meter von ihr entfernt. Ihre nachtsichtigen Augen waren gut genug, um das Glimmen von intensiv grünen Augen zu erkennen, eine ledrige Haut, den leichten Geruch nach Fisch.

Jeder einzelne Muskel ihres Körpers spannte sich an und sie erhob sich langsam. Ganz allmählich kam das Wesen weiter aus dem Wasser, offenbarte Gliedmaßen, einen Körper, eine harpunenartige Waffe, ein Schuppengeflecht, das an einigen Stellen die ungesund gräulich-grüne Haut ersetzte.

Auch, wenn sie Inzarn kampfbereit in der linken Hand hielt, war sie sich ziemlich sicher, dass ihr in diesem Moment keine Gefahr drohte. Trotzdem zuckte sie zusammen, als das Wesen aus dem See zu sprechen begann.

Seine Stimme war leicht und plätschernd, malte das Bild eines sprudelnden Gebirgsbachs in Lenoas Kopf und sie wunderte sich, dass sie die Worte trotzdem verstand.

Willkommen, Blaue Klinge. Wir erwarteten dich.

Die melodische Stimme schien von Lenoas Innerem zu kommen, sie spürte sie eher, als dass sie sie hörte. ,,Blaue Klinge?", flüsterte sie leise und wusste dabei nicht, ob das Wesen sie verstehen konnte.

Du trägst die Blaue Klinge der Hoffnung. Die Bäche trugen uns zu, du hast eine lange Reise hinter dir und doch erzählte uns der Regen, du bist noch nicht am Ziel angelangt.

Die Worte klangen in Lenoa nach wie das Zittern einer Harfensaite. ,,Kannst du mich über den See bringen?", fragte sie und lockerte ihren Griff um Inzarns Heft.

Wir vermögen vieles und doch tun wir nur weniges. Deine Reise endet nicht auf Thelyn, der Insel in unserer Mitte. Doch werden wir dich geleiten.

,,Ist die Krone auf der Insel?", fragte Lenoa weiter, ihre Nerven und Muskeln bis zum Zerreißen gespannt. ,,Wen meinst du mit wir?"

Viele Fragen. Viele Antworten werden bald kommen, Blaue Klinge.

Neben der Gestalt des schuppigen Wesens erschienen noch mehr, alle gleich und doch jedes einzigartig.

Wir sind der Stamm der Alanarae. Wir leben im Einklang mit den Gewässern, mit den Gezeiten und mit den Witterungen. Ich bin Kaorea, der Führer unseres Stammes. Geehrt seist du, Blaue Klinge.

Lenoa entging nicht, dass Kaorea ihr keine Antwort auf die Frage gegeben hatte, ob die Krone auf der Insel sei.

Alanarae wird dir, Blaue Klinge, bei deiner Reise zur Seite stehen.

Mehrere der Wassermenschen schwammen näher zum Ufer, ließen einige Wellen ganz leicht gegen Lenoas Schuhe schwappen. Die fünf, die näher gekommen waren, bildeten einen Kreis und hoben die Arme über das Wasser.

Die Wellen begannen sich zu verändern. Lenoa erschien es, als würden sie sich verdichten. Ein paar Sekunden später setzte sie einen Fuß auf das Wasser und sanfte Wellen umspielten ihre Schuhe, hielten sie auf der Oberfläche.

Viel Glück, Blaue Klinge.

Ma'kani - Auserwählte der Inaari'iWhere stories live. Discover now