Kapitel 4

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Johanna kam nach langer Zeit des Fußmarsches an ein großes Gebäude aus weißem Marmor, das sich allmächtig im Wald erhebt. Das Mädchen trat näher, die Tür war geschlossen und ließ sich nicht halbherzig öffnen. Mit ihrer ganzen Kraft stieß sie das schwere Portal aus Eibenholz auf und betrat die Bibliothek, wo Bücher wie Vögel flogen, die niedergeschriebenen Worte zu ihrem Gesang wurden und die unendliche Wahrheit der Zeilen sich zur reinen Seele dieser fragilen Geschöpfe emporschwang. Mit Erstaunen fasste das Mädchen eine Leiter und kletterte hinauf, um den Büchern näher zu sein. Ein jedes sang und die Lieder berührten Johannas Herz. Wer war es, der von Verführung gesprochen hatte? Dies hier war es nicht. Dies war mehr als die kalte Menschheit hielt, mehr als ein jeder begreifen konnte. Johanna wollte fliegen mit den Büchern, sich zwischen ihnen verlieren und den Worten lauschen, die Sinn und Halt gaben. Von Liebe sangen sie in den schönsten Dur-Tonarten, von Verlust in majestätischem Moll. Johanna rief hinauf: "Singt mir von dem Spiegel!" Ein Buch flog heran und begann zu singen, bald stieg ein anderes mit ein und ein drittes, mal sangen sie gemeinsam, mal klang eines allein, sich ergänzend, bestätigend. "Höre unser Lied, höre unsere Nachricht! Der Spiegel, geschaffen von der Einheit der Sonne und des Mondes, zeigt Vergangenheit und Zukunft, zeigt Gegenwart. Der Kreis ist ewig, wie der Kreislauf von Sonne und Mond ewig ist. An ihm zerbrachen Könige, Priester und Diener, ein jeder gleich vor dem unendlichen Gleichgewicht. Kein Mensch ist Herr über Tod, kein Mensch vermag die Vergangenheit zu ändern! Der Spiegel lehrt dies, doch Menschen können nicht begreifen. Die Vergangenheit ist niemals mit der Gegenwart vereinbar, versucht man es, scheitert man." Johanna war fasziniert und setzte sich zu Boden, lauschte weiteren Gesängen über Könige, Prinzessinnen und Hexen. Viele Tage und Nächte verbrachte sie und wie der Durst sie heimsuchte, so ignorierte sie das Gefühl. Am vierten Tage hörte das Mädchen einen neuen Ton. Ein einziges Buch begann, nur ein Intervall zu singen, eine übermäßige Quarte, einen Tritonus. Zwei Worte sang es, laut und klar: "Memento Mori". Johanna erwachte aus ihrer Apathie und merkte, dass sie starb. Mit letzter Kraft stand sie auf und eilte zum Tor, zog an dem eisernen Ring und floh aus der Bibliothek.

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