Kapitel 45

355 32 2
                                    

Der Küchenstuhl machte ein quietschendes Geräusch als Tobias ihn schwungvoll zurückschob. Es erinnerte mich an jenen Tag, an dem meine Mutter wieder aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen war und uns mitgeteilt hatte, weshalb unser Vater noch nicht nach Hause gehen durfte. Von da an hatte sie jeden Morgen in ihren Kaffee geweint. Sie war nicht ein einziges Mal genauer auf die Krankheit unseres Vaters eingegangen. Wir waren uns selbst überlassen.

Im Nachhinein sagte meine Schwester immer, dass unser Vater sich bloß geschämt hatte. Es klang harmlos aus ihrem Mund. Beinahe so, als hätte unser Vater keine andere Wahl gehabt, als zu trinken und seinen Scham für seine Probleme an uns auszulassen. Dabei war ich der festen Überzeugung, dass jeder Mensch eine andere Wahl hatte. In jedem Moment hätte er sich anders entscheiden können. Selbst im Anfangsstadium seiner Unzurechnungsfähigkeit.

»Wir gehen kurz raus.«, sagte Tobias zu mir. Ich nickte und setzte mich an den Küchentisch. Gedankenverloren umfasste ich mein Glas mit Apfelschorle von vorhin und kippte es leicht, sodass sich die Flüssigkeit bewegte.

Die Haustür fiel ins Schloss.

»Darf ich mich zu dir setzen?« Nick stand im Türrahmen.

»Nur zu.«, erwiderte ich nachdenklich.

Kaum hatte Nick sich hingesetzt, ließ ich das Glas los. Stattdessen wippte ich mit meinen Fingern auf dem Tisch auf und ab. Es konnte nicht sein, dass Nick und der Mann im schwarzen Kapuzenpullover ein ähnliches Tattoo hatten. Das war unmöglich, ... oder?

»Ist alles gut gegangen wegen des Testaments?« Nick griff nach dem Glaskrug, der vor uns auf dem Tisch stand, und goss sich Wasser ein.

»Ja, die beiden sind rausgegangen, um zu reden.« Ich schaute auf. »Kann ich dich mal etwas fragen?«

Nick trank einen Schluck. »Klar.«

»Seit wann hast du dieses Tattoo?«, fragte ich und deutete auf seinen Arm. Nick ließ fast das Glas fallen. Seine Augen glänzten fiebrig, er öffnete den Mund, doch sagte kein Wort.

Dann holte er tief Luft. »Ich kann das erklären.«

»Fang an.«, sagte ich kühl und verschränkte die Arme vor der Brust.

Nick schob seinen Ärmel hoch. Jetzt konnte ich die feinen, schwarzen Linien auf seiner Haut besser erkennen. Sie bildeten einen kleinen Stern, bestehend aus zwei Dreiecken.

»Ich war in Pflegefamilien. Irgendwann wurde ich zu alt und mein Sozialarbeiter wollte mich in ein betreutes Wohnen schicken, bis ich volljährig bin. Es war alles relativ sicher und ich hatte schon meine Sachen gepackt, um noch in der Nacht abzuhauen, da hieß es plötzlich, dass ich in eine kleine Wohnung ziehen könnte.«, erzählte Nick.

»Und das hast du getan?«, wollte ich wissen.

Er nickte. »Die Hauptsache war für mich, ein Dach über dem Kopf und keine Mitbewohner zu haben. Mehr hat mich nicht interessiert.«

»Ich habe mir neben der Schule einen Job organisiert. Also habe ich in einer Kneipe ausgeholfen. Eines Tages kam der Kneipenbesitzer auf mich zu und hat mich gefragt, ob ich nicht zu den Treffen seiner Freunde mitkommen will. Er war schon vierzig, ich habe abgelehnt. In der Schule hatte ich keine Freunde, bis David in die Klasse kam. Mittlerweile macht er woanders eine Ausbildung, aber damals sind wir nach der Schule regelmäßig in die Kneipe gegangen. Wir gerieten irgendwie in diese Gruppe rein und irgendwann sagten sie uns, wenn wir dazugehören wollten, müssten wir uns auch dieses Tattoo stechen lassen.« Nick machte eine Pause, »Jackie, wir wollten einfach überleben.«

Ein Schauder lief mir über den Rücken.

»Seitdem ich volljährig bin arbeite ich da nicht mehr. Ich war seit Ewigkeiten nicht mehr bei dieser Gruppe.«, sagte Nick beinahe flehentlich.

»Aber du hast eine Zeit lang mit dem Entführer von Elena und eventuellen Mörder ihrer Tante in einer Kneipe abgehangen?!« Meine Stimme klang vor Panik ganz schrill.

Er nickte. »Wahrscheinlich.«

Kopfschüttelnd stand ich auf.

»Ich konnte damals nicht wissen, dass so jemand in dieser Gruppe war!« Nick verdeckte sein Tattoo wieder mit dem Pulloverärmel und lief mir hinterher. Im Türrahmen fasste er nach meinem Arm und hielt mich fest. Unfreiwillig blieb ich stehen.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals.

»Es gibt mehr Verbrecher da drüben im anderen Viertel als ich an einer Hand aufzählen kann. Ich verspreche dir, dass ich nicht gelogen habe. Ich kenne den Mann nicht, und ich gehöre nicht zu ihnen.«, sagte Nick mit Nachdruck. Seine Augen glänzten fiebrig. »Bitte behalte es für dich. Diese Geschichte ist nicht relevant für Elena oder Tobias.«

Ich spürte den festen Druck seiner Hand noch immer an meinem Arm. Nick hatte recht. Es war nicht wichtig für Elena und Tobias zu wissen, wie seine Vergangenheit ausgesehen hatte. Niedergeschlagen nickte ich.

»Okay« Müde drehte ich mich zu Nick um, »Aber sobald dieses Tattoo irgendwie im Zusammenhang mit dem Mord interessant wird, sprechen wir es an.«

»Okay« Erleichtert ließ Nick seine Hand sinken. Die Stelle an meinem Arm wurde augenblicklich kühler. Mein Herzschlag beruhigte sich allmählich.

Ich ging rückwärts, um wieder einen sicheren Abstand zwischen uns zu bringen. Nick registrierte dies schweigend. Die Furchen in seiner Stirn wirkten tiefer als sonst. Er ging in den Flur und zog sich rasch seine schwarze Winterjacke über.

»Gehst du?«, fragte ich.

Nick kehrte mir den Rücken zu und öffnete die Haustür. »Es ist besser, wenn wir jetzt nicht zusammen sind.«

»Kommst du wieder?« Ich klang plötzlich schwach.

Er blickte über seine Schulter zu mir zurück. »Ja.«

Elena - Dem Bösen so nahWhere stories live. Discover now