Kapitel 53

320 29 1
                                    

Nick zog mich hoch. Diesmal ließ er meine Hand sofort los, und ich machte keine Anstalten, wegzulaufen. Mein Puls beruhigte sich allmählich. Das Rauschen in meinen Ohren ließ nach, aber ich fühlte mich immer noch ein wenig betäubt. Hoffentlich würde dieses Gefühl nicht allzu schnell abklingen. Ich war nicht bereit dazu, Demütigung und Herzschmerz zu fühlen. Vielleicht hatte ich auch Angst vor der Intensität des Schmerzes, weil es noch nie zuvor jemanden wie Nick in meinem Leben gegeben hatte.

»Meine Mutter starb wirklich bei einem Feuer in unserem damaligen Haus.«, sagte Nick mit Nachdruck. In seinem Gesicht konnte ich eine ungewohnte Ernsthaftigkeit erkennen. Es wirkte beinahe so, als wäre es für Nick von Bedeutung, was ich von ihm hielt.

Er machte einen Schritt zurück, um mir Abstand zu geben. »Und mein Vater war auch wirklich Informatiker.«

Abwartend guckte ich Nick an. Mein Misstrauen versteckte ich dabei nicht.

»Mein Vater hat einen Laden überfallen.« In Nicks Gesicht konnte ich Angst erkennen, »Er war mit einem Messer bewaffnet und hat eine Frau schwer verletzt.«

Ich erstarrte zu Eis. Das taube Gefühl breitete sich weiter in meinem Körper aus. Es war, als würde sich alles drehen.

»Er sitzt seit fünf Jahren im Gefängnis.«, sagte Nick heiser. Mein Bruder hatte davon bestimmt nicht gewusst, als er mir versucht hatte, Nick auszureden. Er war nur von einer Schlägerei ausgegangen, nicht von einer Schlägerei und einem kriminellen Familienmitglied. Das überschritt sämtliche Grenzen.

»Warum sagst du mir das?«, fragte ich zögerlich.

»Damit du verstehst, warum ich gelogen habe.«, entgegnete er und trat näher. »Ein Vater, der im Knast sitzt, ist nichts, worauf man stolz ist. Ich hasse ihn für das, was er getan hat und, verdammt, ich wünschte, wir wären nicht verwandt. Aber er ist mein Vater ... und ich kann das nicht ändern.«

Ich ging einen weiteren Schritt zurück, um meinen Sicherheitsabstand zu bewahren.

»Du brauchst keine Angst vor mir zu haben«, sagte Nick und der flehentliche Blick in seinen Augen zerriss mir das Herz.

»Wieso musstest du aus der Wohnung raus, wenn sie doch deinem Vater gehört?«, wechselte ich das Thema.

»Er hat kein Geld mehr. Sie wird verkauft.«

»Hat dein Vater aus demselben Grund den Laden überfallen? Hattet ihr kein Geld mehr?«, fragte ich nach.

»Ja. Das Pleite-Sein zieht sich praktisch durch mein ganzes Leben.«, witzelte er, aber sein Tonfall war nicht lustig, sondern bitter.

Mich erfasste ein Gedanke, der zutiefst beängstigend war. »Wo wirst du wohnen?«

»Keine Ahnung«

»Kannst du nicht mit irgendjemandem darüber reden?«

»Mit meinem Sozialarbeiter von früher?« Nick schüttelte seinen Kopf, »Ich bin volljährig.«

»Was ist mit deinen Freunden?«, startete ich einen neuen Versuch.

»Das würde niemals funktionieren.«

Hilflos schaute ich mich um. Ich war kurz davor, Nick zu sagen, dass er mit zu mir nach Hause kommen sollte. Was auch immer das für ein Chaos verursachen würde.

»Mach dir keinen Kopf« Nick blickte in Richtung des Hauses, »Ich finde was. Irgendwas.«

»Du kannst nicht obdachlos sein. Also eine gewisse Zeit geht das bestimmt, aber wie willst du die Abschlussprüfungen für das Abitur schaffen? Kein Abi heißt kein Geld, und dann kommst du nicht mehr von der Straße weg. Es ist ein Teufelskreis, verstehst du das nicht?«, redete ich. »Nick?«

Jetzt fuchtelte ich mit meiner Hand vor seinem Gesicht herum. Sein Blick war starr in die Ferne gerichtet.

»Hey, Nick!«, wiederholte ich mich.

Seine Augen schnellten zu mir. In seinem Gesicht lag Panik.

»Ich wollte dich nicht beunruhigen oder-«

»Hast du nicht.«, sagte er eilig. »Jackie, im Haus bei Elena und Tobias ist jemand.«

»Wo?«

»Da« Nick schob sich die Kapuze vom Kopf und zeigte zum Haus. Hinter den hell erleuchteten Sprossenfenstern konnte man tatsächlich eine dritte Gestalt erkennen.

Hektisch blickte ich mich um. »Wie kann das sein? Wir waren die ganze Zeit hier.«

»Er kann auch von der anderen Seite gekommen sein.«, meinte Nick.

»Was hast du vor?« Aufgewühlt sah ich ihn an.

Nicks Pupillen waren geweitet. Er wirkte unentschlossen, aber dann gab er sich einen Ruck.

»Bleib hier.«, sagte Nick ernst.

»Hier?« Entgeistert sah ich ihn an, »Du meinst alleine im Wald?«

Nick fuhr sich mit der Hand durch die regennassen Haare. Unruhig guckte er zum Haus, bevor er sich wieder mir zuwandte.

»Ich komme mit.« Festentschlossen lief ich los.

Nick holte mich schnell ein. Für einige Minuten hörten wir bloß das Knacken der Eicheln und Buchecken unter unseren Schuhsohlen. Dann erreichten wir das Haus. Unbehagen breitete sich in meinem Körper aus.

Extrem vorsichtig betrat ich das glitschige Podest. Im Inneren des Hauses war es still. Ich warf einen Blick die Treppe hinauf. Alles ruhig.

Nick legte die Sporttasche ab. Er deutete mir an, nach rechts zu gehen. Ich nickte.

Mein Puls hämmerte in meinen Ohren, als ich über die Schwelle zur Küche trat. Das Licht brannte, doch hier war niemand. Erleichtert lief ich an der Einbauküche entlang. Neben dem alten Herd stand ein Teller. In der Ecke kurz vor dem Kühlschrank stand eine Waage. Im Staub konnte ich eine feine Linie erkennen. Stirnrunzelnd verfolgte ich die Spur, bis mir der Messerblock auf halber Höhe zwischen Kühlschrank und Herd auffiel. Ich erstarrte.

Mit dem Zeigefinger fuhr ich über das angeraute Holz des Messerblocks. In tiefen Schlitzen steckten fein säuberlich aufgereihte Messer in verschiedenen Größen. Ganz am Ende befand sich ein leerer Schlitz. Ich beugte mich vor. Tatsächlich. Ein Messer fehlte.

Ich zählte eins und eins zusammen und plötzlich begann mir das Herz bis zum Hals zu schlagen. Ich lief los, ohne Rücksicht auf den Holzfußboden zu nehmen, der knarrte, als wollte er mich geradewegs ausliefern. Im Flur stand Nick. Seine Hand schwebte über der Türklinke der Wohnzimmertür.

»Nein«, flüsterte ich. Er drehte seinen Kopf zu mir.

Eilig deutete ich Nick an, mir zu folgen. In der Küche zeigte ich auf den Messerblock. »Hat das Messer ganz rechts schon immer gefehlt?«, fragte ich außer Atem.

»Nein, wieso?« Er guckte mich zuerst verwundert, danach todernst an.

Nick ging zu dem Messerblock. Als er den leeren Schlitz im Holz sah, verpasste er dem Messerblock fluchend einen kräftigen Stoß. Er stieß hart gegen die Wand. Klirrend flog ein kleines Haushaltsmesser auf den Fußboden.

Ich heftete meine Augen auf das kleine Messer. Ein wenig unbeholfen bückte ich mich, um es aufzuheben. In diesem Moment hörte ich Schritte hinter mir. Ich sah nach vorne, wo Nick stand. Er hatte mir den Rücken zugekehrt und stützte sich an der Fensterbank ab.

»Hallo«, hörte ich die unbekannte Person hinter mir sagen.

Nick drehte sich sofort um. Sein Blick streifte meinen, und er versuchte, mir Sicherheit zu vermitteln. Doch so gut Nick auch verbergen konnte, was in ihm vorging, das nervöse Zucken seiner Augenbrauen entging mir nicht.

Ich hockte auf dem Fußboden, hilflos und verzweifelt, das kleine Messer in meiner rechten Hand.

»Nick«, erklang die Männerstimme hinter mir.

Ich fragte mich gar nicht erst, woher die Person Nicks Namen kannte. Stattdessen schaute ich ängstlich in Nicks Augen. Langsam hob er den Kopf. Sein Blick glitt von mir zu dem Mann. Kaum, dass er ihn ansah, versteifte Nick sich. Er kannte ihn. Und ich war mir nicht sicher, was das nun für Elena, Tobias und mich bedeuten würde.

Elena - Dem Bösen so nahWhere stories live. Discover now