Kapitel 52

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Elena saß auf dem Sessel gegenüber des Sofas. Hinter ihr befand sich der Kamin. Über ihre Beine hatte sie sich eine warme Decke gelegt. Das Buch in ihren Händen hatte ein gruseliges Cover, aber es schien Elena zu faszinieren, denn seit heute Morgen konnte sie sich kaum noch davon losreißen.

Tobias schaute aus dem Fenster. Es regnete schon wieder. Frustriert fuhr er sich durchs Haar und drehte sich wieder zu uns um. Ich lehnte an der Kommode neben der Wohnzimmertür. Bei jedem kleinsten Geräusch ging ich in Alarmbereitschaft über. Ich wartete darauf, dass endlich die Haustür aufgehen würde. Wartete darauf, dass Nick zurückkehrte.

»Er ist schon seit fünf Stunden weg.«, stellte Tobias nach einem Blick auf seine Armbanduhr fest.

Ungeduldig tippte ich mit den Fingern auf der Kommode herum.

Elena blätterte eine Seite des Buches um. Ich wünschte, ich hätte ihre Ruhe.

»Ich gehe raus. Ist das in Ordnung?« Schwungvoll stieß ich mich von der Kommode ab.

Tobias nickte.

»Sei vorsichtig.«, hörte ich Elena sagen.

Ich verfiel in eine kurzzeitige Starre.

»Na klar.«, sagte ich leise. »Ich will bloß frische Luft schnappen.«

Meine Beine fühlten sich sonderbar schwer an, als ich mich auf den Weg zur Haustür machte. Dort zog ich mir Jacke und Schuhe an. Vor dem Spiegel neben der Garderobe hielt ich inne. Meine glatten, dunkelbraunen Haare hatte ich mir zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden. Augenringe hatten sich gebildet und meine Lippen wirkten spröde.

Mit einem Ruck zog ich die Haustür auf. Es goss in Strömen. Von den Bäumen tropfte es, das Podest, auf das ich hinaustrat, war glitschig und von dem Geländer perlten Wassertropfen ab. Eilig setzte ich die Kapuze meiner Winterjacke auf.

Ich schloss die Haustür hinter mir. Dann hielt ich mich am Geländer fest, um nicht auszurutschen. Bald würden meine Schuhe klatschnass sein. Mir blieb nicht viel Zeit, also lief ich ohne nachzudenken los.

Die Luft war angenehm kühl, der Regen rauschte in meinen Ohren. Irgendwann hörte ich ein regelmäßiges Knirschen auf dem Boden. Ich hob das Kinn, hielt mit einer Hand jedoch die Kapuze fest, damit mir diese nicht vom Kopf rutschte. Ein Junge kam mir entgegen. Zuerst erkannte ich die Jacke.

»Nick«, rief ich. Er war nur noch wenige Meter von mir entfernt.

Als er näher kam sah ich, dass über Nicks Schulter eine Sporttasche hing. Die hatte ich noch nie zuvor bei ihm gesehen.

Nick blieb vor mir stehen.

»Was ist los?«, fragte ich.

»Das ist nicht dein Problem.«, entgegnete er kühl. Dann lief er weiter. Im Gehen drehte er sich noch einmal zu mir um. »Willst du hier stehenbleiben oder gehen wir ins Haus?«

Verwirrt blickte ich Nick nach. Schließlich setzte ich mich in Bewegung. Ich lief immer schneller, bis ich ihn am Arm packen konnte. Nick machte einen abrupten Schritt auf mich zu. Ich ließ ihn los und stolperte zurück.

»Was soll das?«, rief ich und runzelte die Stirn.

»Was soll was?« Nick starrte mich an. In seinem Blick lag Angriffslust.

»Du benimmst dich wie ein Idiot«, stieß ich hervor. Das Blut kochte in meinen Adern. »Wie ein verdammter Idiot!«

Zorn huschte über sein Gesicht.

»Du haust ab und sagst niemandem ein Wort. Irgendwann tauchst du wieder auf und erwartest, dass alles beim Alten ist?!« Ich warf die Hände in die Luft. Die Kapuze rutschte mir vom Kopf. »Das ist es nicht.«

Nick senkte seinen Blick.

Ich wollte weglaufen, da griff er nach meinem Handgelenk. Ärgerlich versuchte ich, seine Hand abzuschütteln, aber er hielt fest. Der Regen durchnässte langsam meine Haare und ein Frösteln breitete sich in meinem Körper aus.

»Mir wurde die Wohnung gekündigt.«, sagte Nick.

Geschockt schaute ich zu ihm auf. In seinem Gesicht spiegelte sich pure Verzweiflung wider.

»Sind das die Sachen aus deiner Wohnung?« Ich deutete auf die Sporttasche.

Er nickte.

»Mehr hast du nicht?«, hakte ich nach.

»Nein«

»Hat man nicht in der Regel vier Wochen Zeit bis man ausziehen muss?«, fragte ich vorsichtig nach.

Nick verspannte sich. Er wich meinem Blick aus. Hier stimmte irgendetwas ganz und gar nicht. Sein Schweigen machte mich unruhig. Er begann mir Angst zu machen.

»Nick«, sagte ich tonlos.

Als er schwieg, dämmerte mir, dass er anscheinend immer noch genügend Geheimnisse hatte, von denen keiner wusste. Auch ich nicht.

»Warum hattest du keine vier Wochen Zeit zum Umziehen?« Meine Stimme bebte vor Aufregung.

»Weil es nicht meine Wohnung war.«, antwortete Nick. Seine Ausstrahlung war unangenehm furchterregend.

Ich biss mir auf die Lippe. »Und wessen Wohnung war es sonst?«

Nick sagte nichts.

»Antworte mir«, zischte ich. »Antworte endlich, oder du siehst mich nie wieder!«

Wahrscheinlich wäre es für Nick sogar erleichternd, würde ich meine Drohung wahrmachen.

»Sie gehört meinem Vater.«, meinte er dann.

Mir blieb die Luft weg.

»Was?«, stammelte ich. Tote konnten nicht Eigentümer von Wohnungen sein. Das ging einfach nicht.

Ich wartete darauf, dass Nick sich korrigierte, doch das tat er nicht. Hieß sein Schweigen etwa, dass sein Vater lebte? Meine Pupillen weiteten sich. Mein Herz raste. Nick hatte mich angelogen. Vielleicht lebte seine Mutter auch noch. Gott, wieso hatte ich ihm meinen Glauben geschenkt?

Ich blickte ein bisschen zu hektisch hinab auf seine Hand mit der er mich noch immer festhielt. Ein tiefes Unwohlsein überkam mich. Was war, wenn das Tattoo doch eine wichtige Bedeutung für den Mord hatte? Konnte ich Nick zutrauen, Komplize eines Mörders zu sein?

»Bitte lass mich los.«, flüsterte ich.

»Versprich mir, dass du nicht wegläufst, wenn ich dich jetzt loslasse.« Er suchte meine Augen.

Nach einigen Sekunden nickte ich. Meine Mutter hatte mal gesagt, sie könnte sehen, sobald ich sie anlog. Für Nick galt das nicht. Er war ... ein Fremder.

Langsam ließ er mein Handgelenk los. Ich zögerte nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde. Sofort rannte ich los, direkt auf das Haus zu, in dem Tobias und Elena waren. Hinter mir hörte ich Nicks Schritte. Er war einen Kopf größer als ich und dementsprechend schnell.

Das Haus war bereits in Sichtweite. Es fehlte nicht mehr viel, da rutschte ich aus. Matsch spritzte auf meine Kleidung, Schmerz breitete sich in meinem Kreuz und an meinen Händen aus. Es brannte wie Hölle. Keuchend stützte ich mich ab, als Nick mir seine Hand entgegenstreckte. In seinem Gesicht sah ich alles, aber bestimmt keine Freundlichkeit. Die Angst vor ihm traf mich schnell und heftig, und ließ mein Vertrauen verpuffen, als wäre es niemals da gewesen.

Elena - Dem Bösen so nahWo Geschichten leben. Entdecke jetzt