1. Point of no Return

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Was dann geschah, fühlte sich zugegebenermaßen ziemlich surreal an. Völlig aufgewühlt hatte ich meinen alten Rucksack unter dem Bett hervorgeholt, einen für Harvard fertig gepackten Koffer geöffnet und wahllos ein paar Kleidungsstücke hineingeschmissen. Ich wusste noch nicht einmal, wohin ich eigentlich wollte, daher gestaltete sich die Auswahl ziemlich schwierig.

Während ich damit beschäftigt war, bekam ich am Rande mit, dass mein Telefon in Dauerschleife vibrierte. Allerdings ließ ich die Anrufe unbeantwortet, da ich keine Lust auf weitere Anschuldigungen von Lucas hatte. Was auch immer er sagen wollte: Es würde nichts mehr ändern. Mein Entschluss stand fest.

Trotzdem war mir durchaus bewusst, dass meine Eltern ausflippen würden, wenn ich das hier wirklich durchzog. Aus irgendeinem Grund war es mir jedoch plötzlich egal. Ich ließ mich für einen kurzen Moment auf dem Schreibtischstuhl nieder, um ihnen eine kurze Abschiedsnotiz zu hinterlassen. Immerhin sollten sie wissen, dass ich freiwillig abgehauen und nicht etwa das Opfer einer Entführung geworden war.

Aber was schreibt man seinen Eltern, wenn man von jetzt auf gleich verschwinden will?

Hi Mom, hi Dad! Es tut mir leid, aber ich muss endlich herausfinden, wer ich wirklich bin. Macht euch bitte keine Sorgen! Bis bald! Charlotte

Nicht besonders kreativ, aber mir rannte die Zeit davon und ich wollte fort sein, bevor ich Gefahr lief, meinen Eltern zu begegnen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es bereits kurz vor sieben war und mein Dad wahrscheinlich in etwa zwei Stunden aus der Kanzlei zurückkehren würde. Meine Mom war früher ebenfalls als Anwältin tätig gewesen, allerdings hatte sie ihre Karriere nach meiner Geburt hintenangestellt und half meinem Vater nur noch gelegentlich mit ihrer fachlichen Expertise aus. Daher war es schwierig einzuschätzen, ob sie sich ebenfalls in der Kanzlei aufhielt oder einem ihrer zahlreichen Hobbys nachging und somit jederzeit im Türrahmen erscheinen konnte.

Ohne weiter nachzudenken, schmiss ich mir den Rucksack über die Schultern und rannte die Treppen ins Erdgeschoss hinunter, bevor ich hastig unser Anwesen verließ. Mein Handy hatte ich ebenfalls zurückgelassen, da ich selbst entscheiden wollte, wann ich mir die Standpauke meiner Eltern anhören würde. In meinem Kopf schwirrten tausend Gedanken, während mich meine Füße ganz automatisch zur Madison Ave trugen, wo ich auch sogleich eines der typischen gelben Taxis erblickte. Ich gab dem Fahrer ein Zeichen, woraufhin dieser vor einer Boutique stoppte und wartete, bis ich zu ihm aufgeschlossen hatte.

„Wo soll es denn hingehen?", wollte der Taxifahrer wissen, als ich mich neben ihm auf den Beifahrersitz sinken ließ und meinen Rucksack vor mir im Fußraum verstaute. In diesem Moment realisierte ich, dass ich noch immer absolut keine Ahnung hatte.

„Zum Flughafen, denke ich ...", antwortete ich also unsicher. Allerdings blieb mir auch keine Zeit, meine Antwort zu überdenken. Ich hatte den Satz nämlich noch nicht vollständig ausgesprochen, da trat der Fahrer bereits das Gaspedal durch und rauschte mit eindeutig unangepasster Geschwindigkeit durch den New Yorker Stadtverkehr.

****

Der Taxifahrer erreichte den JFK Airport in Rekordgeschwindigkeit und reihte sich routiniert in die Schlange gelber Wagen vor Terminal Vier ein. Nachdem ich ihm das Geld in die Hand gedrückt hatte, verließ ich das Fahrzeug und fand mich sogleich vor dem gläsernen Zugang zu dem riesigen Gebäudekomplex wieder. Einen Moment stoppte ich in meiner Bewegung und beobachtete das hektische Treiben um mich herum. Während ich darüber nachdachte, wahrscheinlich der einzige völlig planlose Mensch hier zu sein, musste ich plötzlich laut auflachen. Anscheinend war ich komplett übergeschnappt, aber das spielte keine Rolle mehr, denn ich würde unter keinen Umständen zurückgehen.

In meiner Entscheidung bestätigt betrat ich also den Flughafen und begab mich an den ersten freien Informationsschalter, wo mir eine offensichtlich ziemlich gestresste Mitarbeiterin entgegenblickte. Sie rückte sich notdürftig die Brille zurecht, während sie darauf wartete, dass ich zu ihr sprach.

„Hallo, ich weiß, das klingt jetzt seltsam, aber ich möchte ein Ticket für den nächstmöglichen Flug buchen."

„Wohin soll es denn gehen?", erwiderte die Frau unbeeindruckt, während sie mich skeptisch über den Rand ihrer Brille musterte. Anscheinend war ich zuvor nicht deutlich genug gewesen.

„Egal wohin. Hauptsache weg von hier und das so schnell wie möglich", entgegnete ich also und hoffte, sie würde keine weiteren Fragen stellen. Zu meiner Verwunderung änderte sich ihr mürrischer Gesichtsausdruck und nun sah sie fast so aus, als hätte sie Mitleid mit mir.

„Einen Moment", antwortete sie schließlich etwas sanfter und wandte sich dem Bildschirm vor ihr zu, um konzentriert etwas in den Computer einzugeben. Nach einer Weile hob sie ihren Blick und teilte mir das Ergebnis ihrer Recherche mit: „Der nächstmögliche Flug geht nach Kolumbien, ins wunderbare Cartagena. Du musst dich aber beeilen, der Check-In läuft bereits und der Flug startet von Terminal acht."

Ohne zu zögern stimmte ich zu und bezahlte das Oneway-Ticket mit meiner Kreditkarte, bevor ich so schnell wie möglich den Flughafen durchquerte, um meinen Flug nicht zu verpassen. Völlig außer Atem erreichte ich schließlich das Terminal und schaffte es glücklicherweise noch rechtzeitig, den entsprechenden Schalter aufzusuchen. Ich reihte mich in die Schlange wartender Menschen ein und stützte meine Hände auf den Oberschenkeln ab, um mich von der unerwarteten sportlichen Einlage zu erholen.

Nachdem ich mich einigermaßen gefangen hatte, richtete ich mich wieder auf und betrachtete während der Wartezeit die Menschen um mich herum. Sie wirkten gelöst und schienen in Urlaubslaune zu sein, während sie sich immer wieder umarmten und miteinander scherzten. Dieser Anblick versetzte mir augenblicklich einen Stich ins Herz, denn er machte mir schmerzlich bewusst, wie kalt meine eigene Familie war. Obwohl Geld in meinem Leben nie eine Rolle gespielt hatte, konnte ich die Urlaube mit meinen Eltern an einer Hand abzählen. Mein Vater verbrachte nahezu jeden Tag in seiner Kanzlei und gestand sich selbst fast keine Freizeit zu, weshalb ich auch kaum glückliche Kindheitserinnerung mit ihm besaß. Meistens war ich mit meiner Mom alleine verreist und auch das war eher eine Seltenheit gewesen.

Ich beschloss jedoch, die trüben Gedanken beiseite zu schieben und mich stattdessen auf meinen bevorstehenden Trip zu fokussieren. So ganz konnte ich allerdings immer noch nicht fassen, dass ich mir tatsächlich einfach so ein Ticket nach Kolumbien gekauft hatte und irgendwie befürchtete ich, jeden Moment in meinem Bett aufzuwachen. Aber auch nachdem ich mir mehrmals in den Arm gezwickt hatte, bewahrheitete sich diese Sorge glücklicherweise nicht.

Kurze Zeit später fand ich mich tatsächlich auf einem Fensterplatz im Flugzeug wieder und das einsetzende Dröhnen der Triebwerke verkündete, dass es nun endgültig kein Zurück mehr gab

Perfect Getaway.Where stories live. Discover now