93.

1.1K 68 18
                                    

Noch zwei Tage bis zur Eröffnung des neuen Shops. Als wäre das nicht schon aufregend genug, stand heute etwas verspätet eine sehr wichtige Untersuchung beim Frauenarzt an. Das Organscreening. Marco nannte diese Termine immer liebevoll „Babywatching" und da er beim letzten Mal, vor Ibiza, nicht dabei sein konnte war er nun umso glücklicher, dass ich den Termin extra auf seinen trainingsfreien Tag gelegt hatte.
Heute morgen saß ich schon eifrig auf dem Boden des ehemaligen Gästezimmers von Marco und sortierte die verschiedensten Sachen aus den Schränken in Kartons. So langsam setzte bei mir der Nestbautrieb ein - auch wenn ich mit dem Shop noch alle Hände voll zutun hatte. In meinem Kopf schwebte schon das neue Projekt namens Kinderzimmer herum. Doch irgendwann hatte Marco mich aus dem Zimmer hinaus gescheucht. „Bring erstmal eine Sache zu Ende." hatte er bloß schmunzelnd von sich gegeben.
Er hatte recht. Mal wieder steckte ich meine Nase in viel zu viele Angelegenheiten. Da war einmal die Eröffnung und dessen Planung, die Überraschungsparty für Lennards dreiundzwanzigsten Geburtstag, der Rettung seiner Beziehung, Lennards Regeneration, die Vorbereitung auf die Gerichtsverhandlung und nun auch noch der Planung des Kinderzimmers. Ich wollte das aber so. Irgendwie fiel es mir noch nie leicht, einen Stillstand im Leben zu akzeptieren. Immer suchte ich nach neuen Projekten oder machte eben Probleme. Immerhin hatte ich letzteres im letzen halben Jahr abgelegt. So war ich nur noch halb so nervig.
Marco reagierte jedenfalls nicht gerade überrascht als ich ihn von Lennards Problemen erzählte. Er hatte so etwas in der Art schon befürchtet, wollte es aber auf keinen Fall herbei schwören. Es war schon immer eine Art Tick von Lennard, zu schnell zu viel von sich selbst zu erwarten und abzuverlangen. Er musste sich Zeit lassen. Nach sämtlichen Terminen mit Spitzenärzten fand tatsächlich Manuela, Marcos Mutter, den passenden Typen für meinen Bruder. Sie erinnerte sich an eine Zeit, als Marco von einer Verletzung zur nächsten hechtete und dieser Arzt hatte ihm damals geholfen, seine Belastbarkeit immer weiter auszubauen. Das hörte sich doch schon wenigstens einmal nach einem großen Schritt in die richtige Richtung an. Wir mussten geduldig sein, aber trotzdem daran glauben, dass Lennard nun in die richtigen Hände geraten war. Am liebsten hätte ich Manuela abgeknutscht. Sie war einfach goldig, herzlich, fürsorglich - eine richtige Mutter eben. Marco versuchte ebenso wieder mehr für Lennard da zu sein. Die zwei gingen, wie früher, wieder regelmäßig Laufen. Von Tag zu Tag wurde Lennard wieder entspannter. Das beruhigte mich ungemein. Ich würde es nämlich nicht so einfach akzeptieren, dass mein Bruder seine Leidenschaft aufgab nachdem unsere Mutter in allen Linien versagte.
In den letzten Tagen spürte ich unseren Sohn immer öfter strampeln oder er hatte Schluckauf. Jedes einzige Mal stellte sich mir plötzlich die Frage, wie man so etwas seinen Kindern antun kann, das meine Mutter uns antat. Als ich meine letzten Kisten endlich einsortierte fand ich genau in einem solchen Moment ein Bild meiner Mutter, als wir noch nicht in Dortmund lebten. Es war kurz vor dem Umzug - eigentlich wollte ich ihr ein Fotoalbum basteln, aber ich bin darüber hinweg gekommen. Sie sah total glücklich aus und es überkam mich plötzlich so ein komischer Gedanke. Ich fragte mich, ob sie vielleicht gerade an uns - also Lennard und mir - kaputt ging. Weil sie sich selbst und ihr eigenes Leben immer hinten anstellte, nachdem unser Vater in einer Nacht und Nebelaktion abhaute. In unserer Heimat hatte sie eine feste Stelle, einen Nebenjob und viele Freunde. Sogar noch etwas Familie hatten wir da. Es störte mich jedenfalls mit einem Mal, dass mein Kind niemals meine Mutter kennenlernen würde, obwohl ich nicht einmal wusste ob ich wollte, dass mein Sohn seine Oma kennenlernte. Was eine Zwickmühle.
„Worüber denkst du nach?" riss Marco mich plötzlich aus meinen tiefsten Gedanken. Vorsichtig legte er während der Fahrt seine rechte Hand auf meinen Oberschenkel und grinste mich kurz von der Seite an, bevor er wieder zur Straße herüber linste. „Oh - ich hoffe nur, dass er gesund ist." Eine Notlüge musste jetzt drin sein, ich konnte ihm jetzt nicht mit meinen ernsten Gedanken die Stimmung versauen. „Ach bestimmt. Dir geht es doch gut, oder?" versicherte er sich. Ich nickte brav: „Ja, alles Bestens." winkte ich ab. Er biss sich auf die Unterlippe: „Du musst es aber bald ein wenig langsamer angehen lassen, Yve.", „Was denn?", „Na alles!" sagte er ernst. Ich kräuselte meine Stirn: „Ich kriege das schon hin." murmelte ich. Erst zog überrascht seine Augenbrauen hoch: „Da bin ich mir nicht so sicher." Ich antwortete ihm lieber nicht mehr. Das war eine kleine Streitvermeidungsstrategie, die ich entwickelt hatte. Hätte ich nicht so viel um die Ohren, würde ich mir wahrscheinlich vor Angst und Nervosität in die Hosen machen und noch mehr über meine Mutter nachgrübeln. Das kam gar nicht in die Tüte. Obwohl ich viel zutun hatte, war ich nur so tiefenentspannt. Basta!
Es dauerte nicht lange, bis wir ins Untersuchungszimmer gelassen wurden und mein Frauenarzt anfing, unser Baby von Kopf bis Fuß abzuscannen.
„Ihr Sohn liegt wirklich perfekt für die heutige Untersuchung." lächelte der Arzt. Marco lachte leise neben mir: „Er weiß halt wann es auf etwas wichtiges ankommt. Wie sein Vater." flüsterte er mir zwinkernd zu. Leise begann ich zu Lachen und schüttelte dabei amüsiert meinen Kopf.
Obwohl man als Laie nicht wirklich etwas erkennen konnte, starrten wir wie gebannt auf den Monitor. Marco zerquetschte vor Aufregung beinahe meine Hand. „Das Herz und die restlichen Organe sehen auch hervorragend aus. Das ist doch eine tolle Nachricht, nachdem sie Angst hatten, dass das Baby nicht gesund sei als sie erfahren haben, dass sie während des Überfalls schwanger waren." wieder lächelte er mir zu. Ich presste meine Lippen aufeinander und nickte. Falsches Thema.
„Oh!" machte der Arzt plötzlich überrascht. Marco und ich blickten ihn schockiert an: „Was ist? Doch nicht gesund?" entfloh es Marco sofort ängstlich. „Quatsch. Entschuldigen sie bitte!" der Arzt zoomte irgendetwas näher heran und begutachtete schlitzäugig das Bild vor seiner Nase. „Frau Kühnert, Herr Reus, ich muss ihnen beichten, dass ich mich beim letzten Mal wohl vertan habe" er kratzte sich mit einem peinlich berührten Grinsen an seinem Hinterkopf und starrte uns an, bevor er sich räusperte: „Die Nabelschnur lag letztes Mal so ungünstig, dass ich ihr Kind für einen Jungen gehalten habe, aber ihr kleiner Junge, der ist nun ein kleines Mädchen." schmunzelte er.
Baff und mit offenem Mund suchten sich Marcos und mein Blick.
Ich hatte es aber sowas von geahnt!

Schmetterlingseffekt IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt